Das letzte Koenigreich
verstand. Ohne zu antworten, sah ich ihn an und erkannte ihn an seinem langen blonden Haar, dem silbernen Kettenhemd und dem breiten Grinsen im Gesicht als denjenigen, der meinen Bruder getötet hatte. Wie ein Narr, der ich wohl auch war, schrie ich ihn an. Hinter ihm stand ein Bannerträger, der an einer langen Stange einen Adlerflügel präsentierte. Tränen verschleierten meinen Blick. Vielleicht machte mich auch die Wut blind, denn trotz meiner panischen Angst ritt ich auf den langhaarigen Dänen zu, stieß mit meinem kleinen Schwert nach ihm, er parierte, und meine schwache Klinge zerknickte wie das Rückgrat eines Herings. Als er zum tödlichen Schlag ausholte, sah er meine kümmerliche Waffe und fing zu lachen an. Ich machte mir in die Hosen, und er lachte. Er lachte auch, als ich erneut mit meiner nutzlosen Klinge zustoßen wollte. Dann streckte er den Arm aus, pflückte mir das Schwert aus der Hand und warf es weg. Danach hob er mich aus dem Sattel. Ich schrie und wehrte mich nach Kräften, doch auch das fand er nur komisch. Er legte mich bäuchlings vor sich auf den Sattel und sprengte nach vorn, um mit dem Töten weiterzumachen.
Und so lernte ich Ragnar kennen, Ragnar den Furchtlosen, den Mörder meines Bruders, Graf Ragnar, dessen aufgespießter Kopf nach dem Willen meines Vaters das Torhaus der Bebbanburg hätte zieren sollen.
ERSTER TEIL - Eine Kindheit unter Heiden
EINS
Die Dänen handelten an diesem Tag sehr klug. Sie hatten innerhalb der Stadt neue Wälle errichtet, unsere Männer in die Straßen gelockt, sie umzingelt und getötet - doch nicht alle, denn selbst die hitzigsten Krieger haben irgendwann genug vom Abschlachten, und außerdem verdienten die Dänen mit Gefangenen viel Geld. Viele wurden als Sklaven an Gutsherren auf den wilden Inseln im Norden verkauft, nach Irland oder auch nach Dänemark; manche sogar auf die großen Sklavenmärkte im Frankenreich verschleppt, oder noch weiter nach Süden an Orte, an denen es keinen Winter gab und wo Menschen lebten, deren Haut dunkel war wie verbranntes Holz und die viel Geld bezahlten für gesunde Männer und, besser noch, für junge Frauen.
Doch die Dänen töteten auch viele von uns. Sie töteten A Ella, sie töteten Osbert, und sie töteten meinen Vater. A Ella und mein Vater hatten Glück, denn sie fielen mit dem Schwert in der Hand, während Osbert gefangen genommen und in der Nacht, als die Dänen in der nach Blut stinkenden Stadt ihren Sieg feierten, aufs grausamste gefoltert wurde. Einige der Sieger bewachten den Wall, andere feierten in den eingenommenen Häusern, die meisten aber versammelten sich im Palas des geschlagenen Königs von Northumbrien, wohin Ragnar auch mich brachte. Ich weiß nicht, warum er das tat. Ich rechnete damit, getötet oder bestenfalls in die Sklaverei verkauft zu werden, doch ließ mich Ragnar am Tisch seiner Männer Platz nehmen, servierte mir ein gebratenes Gänsebein, ein halbes Brot und einen Becher Ale und gab mir einen Klaps auf den Kopf.
Anfangs nahmen die Dänen kaum Notiz von mir. Sie waren allzu beschäftigt damit, sich zu betrinken, und als es so weit war, hatten sie ihren Spaß an Raufereien. Das lauteste Gejohle aber brach aus, als man den gefangenen Osbert zwang, gegen einen jungen Krieger anzutreten, der außergewöhnlich geschickt mit dem Schwert umzugehen wusste. Er tanzte um den König herum und schlug ihm dann mit einem Streich die linke Hand ab, bevor er ihm den Bauch aufschlitzte, aus dem, weil der König ein kräftiger Mann war, die Eingeweide hervorquollen wie Aale aus einem aufgerissenen Sack. Viele Zuschauer konnten sich vor Lachen kaum halten. Der Todeskampf des Königs dauerte lange, und noch während er um Erlösung flehte, kreuzigten die Dänen einen gefangenen Priester, der gegen sie gekämpft hatte. Unsere Religion faszinierte und stieß sie zugleich ab, und sie wurden wütend, als sich die Hände des Priesters von den Nägeln lösten. Sie behaupteten, es sei unmöglich, einen Mann auf diese Weise zu töten, diskutierten darüber mit betrunkener Ausführlichkeit und nagelten den Priester ein zweites Mal an die Holzwand, bis ihm einer der Krieger, dieses grausamen Spiels überdrüssig, eine Lanze in die Brust rammte, ihm die Rippen brach und das Herz zerfetzte.
Als der Priester tot war, wandte sich eine Hand voll der Männer gegen mich. Weil ich einen Helm mit vergoldetem Bronzeband getragen hatte, hielten sie mich für einen Königssohn. Sie legten mir eine Robe um, worauf einer
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