Das letzte Opfer (German Edition)
wissen, was sie gegen dieses oder jenes Gesicht einzuwenden habe. Er fand sie fast alle ausnehmend hübsch. Häufig fischte er auch einen Brief, den sie gerade in den Papierkorb befördert hatte, wieder heraus und wollte wissen, warum sie abgesagt hatte. Er hielt sie für ein bisschen streng, freute sich aber, dass ihr Selbstbewusstsein so gestiegen war.
Einmal in der Woche fuhr sie mit dem Zug nach Sindorf, verbrachte den Nachmittag mit Jasmin und hinterließ auch bei Christa einen guten Eindruck. Sie war immer tadellos frisiert und schick gekleidet, saß ja nun direkt an der Quelle. Wenn Aufnahmen für einen Katalog beendet waren, konnten die Models die Sachen häufig für einen Spottpreis kaufen. Das meiste war ihre Größe. Und Margo sorgte dafür, dass sie sich die besten Teile aussuchte, ein Gefühl für richtige Eleganz entwickelte.
Sie machte Schularbeiten mit Jasmin, obwohl es nicht nötig war, dem Kind dabei zu helfen. Jasmin war nicht nur ihr Ebenbild, sie trat auch in puncto Begabung in die Fußstapfen ihrer Mutter. Und sie konnte bis fünfzig zählen, als sie eingeschult wurde.
Abends saßen sie alle zusammen. Sie wartete darauf, dass ihr Vater anrief, das tat Karlheinz regelmäßig dreimal in der Woche, als ob es nie eine Scheidung gegeben hätte. Wenn er sich meldete, schwärmte sie ihm von ihrer Arbeit vor. Karlheinz war glücklich, weil sie zufrieden war.
Getrübt wurde die allgemeine Harmonie nur einmal, als der Hochzeitstermin festgesetzt werden sollte. Anfang September wäre Marko am liebsten gewesen, er wollte auch unbedingt seine alte Großtante einladen. «Wenn dieses Weib dabei sitzt, komme ich nicht», sagte Margo.
Und Norbert machte klar, dass er nicht daran dachte, seinen Urlaub im Schwarzwald zu verschieben. So entschieden sie sich für den 28. September und eine Feier im engsten Familienkreis, ohne die Tante. Marko besuchte sie vorher noch einmal für zwei Tage, schenkte ihr einen neuen Kühlschrank und versprach ihr Unmengen von Fotos, damit sie sich seine Hochzeit in aller Ruhe anschauen könne.
Julia
Zwei Wochen bevor Karen und Marko Stichler auf einem Kölner Standesamt getraut wurden, verschwand Julia Roberts. Ihr Name war der fünfte auf Thomas Scheibs Liste. Und bei ihr war es vermutlich der Name, der sie ins Verderben führte. Zum Zeitpunkt ihres Verschwindens war sie vierundzwanzig Jahre alt und sehr stolz darauf, genauso zu heißen wie die amerikanische Schauspielerin. Entsprechend träumte sie von einer Karriere beim Film und bildete sich ein, ihrer Namensschwester sehr ähnlich zu sehen. Von sehr konnte nicht die Rede sein, eine gewisse Ähnlichkeit gab es.
Bis Februar 1994 lebte sie bei ihren Eltern in der Kleinstadt Weilheim in Bayern, arbeitete als Zahnarzthelferin, hatte einen Freund, Sebastian Hofer. Ein bodenständiger Typ, der in Julias Träume nicht hineinpasste.
Ihre Mutter war der Verzweiflung nahe, als Julia ihren Job kündigte und nach München zog, weil sie hoffte, in der Filmmetropole die richtigen Leute kennen zu lernen. Sie fand Unterkunft in einer Schwabinger Wohngemeinschaft, in der schon drei junge Frauen lebten. Ihren Unterhalt bestritt sie als Bedienung in einem Lokal, in dem viele Filmleute verkehrten. Schon nach kurzer Zeit begann sie eine Affäre mit einem Regisseur, der fast dreißig Jahre älter war als sie, obwohl die Beziehung zu Sebastian Hofer in Weilheim nicht beendet war und er sie häufig in München besuchte, was jedes Mal zu hässlichen Szenen führte.
In der ersten Septemberwoche 1994 erzählte Julia ihren Mitbewohnerinnen von einem wichtigen Termin am 14. September. Sie erzählte häufig von wichtigen Terminen, meist war es ein Casting für irgendeine Fernsehserie, angeblich von dem Regisseur vermittelt. Daran war nie ein wahres Wort, aber das wussten ihre Mitbewohnerinnen nicht. Der Regisseur hatte Julia deutlich zu verstehen gegeben, dass er sich allenfalls dafür einsetzen könne, ihr einen Job in der Kantine auf dem Gelände der Bavaria Studios zu beschaffen. Dass ihr Liebhaber ihrer Karriere nicht förderlich war, hatte sie längst eingesehen. Sie habe jetzt endlich jemanden kennen gelernt, behauptete sie, der ihr mit hundertprozentiger Sicherheit eine Rolle beschaffen könne. Nicht für eine belanglose Fernsehserie, nein, für einen großen Kinofilm, der in Italien gedreht werden solle.
Am 14. September brach sie um sieben Uhr morgens auf, um zu joggen. Sie lief bevorzugt in den Isarauen. Zu welchem Zeitpunkt sie zurück
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