Das letzte Opfer (German Edition)
sie nach Köln kommen könne, da hätte er auch tagsüber etwas von seinem Sohn gehabt. Allerdings war er strikt dagegen, dass Norbert irgendeine alte Schrottkiste für sie herrichtete. Er wollte ihr ein neues Auto kaufen.
«Denk lieber gar nicht erst drüber nach», sagte Christa. «Oder willst du mit dem brüllenden Kind fahren? Da möchte ich nicht sehen, wo sich das Auto beim nächsten Mal überschlägt.»
Sie wusste, dass ihre Mutter Recht hatte. Damit Norbert sich nicht gar so sehr aufregte, sagte sie: «Ich brauche kein Auto. In Köln kriegt man ja doch keinen Parkplatz. Es ist vernünftiger, den Zug zu nehmen.»
«Dann tu das», sagte er. «Aber tu endlich was, Karen. Du traust dich ja nicht mal mit dem Kinderwagen durchs Dorf. Wenn du dich jetzt schon von dem Knirps tyrannisieren lässt, was machst du, wenn er älter wird? Setz dich durch.»
Er hatte leicht reden, wie sollte sie sich durchsetzen gegen ein Baby? Es wurde nur schlimmer. Als Kevin ein Jahr alt war, legte er los mit ohrenbetäubendem Gebrüll, wenn ihm etwas nicht passte. Nahm sie ihn auf den Arm, machte er sich ganz steif, bog den Rücken durch und den Kopf weit nach hinten, dass sie ihn kaum halten konnte. Oft schlug er ihr ins Gesicht oder griff mit beiden Händen in ihre Haare und zerrte daran, bis sie ihn notgedrungen wieder herunterließ.
Einmal riss er ihr einen Ohrstecker heraus. Ihr Ohrläppchen wurde gespalten, die Stecker konnte sie danach nicht mehr tragen. Da schimpfte sogar Marko mit ihm, weil er die Platinstecker so gerne an ihr gesehen hatte. Ein andermal verkrallte Kevin sich in der Kette des Medaillons, das Marko ihr in der Eifel um den Hals gelegt hatte. Sie hatte es seitdem nicht wieder abgenommen, nicht einmal unter der Dusche oder bei der Geburt. Die Kette ging natürlich kaputt. Da gab sie ihm einen Klaps auf die Finger. Zum Glück war er noch so klein, dass er sie nicht bei Marko verpetzen konnte, sonst hätten sie vielleicht Streit bekommen. Marko hielt nichts von drastischen Erziehungsmethoden. Die hatte es bei ihm auch nicht gegeben, keinen einzigen Schlag, sagte er einmal.
Norbert reparierte die Kette. Es hatten sich nur zwei Glieder verzogen, die sich wieder zusammendrücken ließen. Aber die Stelle blieb sehr anfällig. Bevor sie ins Bett ging, nahm sie das Medaillon nun lieber ab, legte es erst nach dem Duschen am nächsten Morgen wieder an und hütete sich, Kevin noch einmal auf den Arm zu nehmen. Das war auch nicht nötig.
Er lief bereits an einer Hand und an den Möbeln entlang, aber meist krabbelte er. Den ganzen Tag wischte sie hinter ihm her, weil er immer noch keine Windeln vertrug. Nichts in Kniehöhe war sicher vor ihm, alles wanderte sofort in den Mund, auch Erdklumpen im Garten.
Der Zierteich musste zu seiner Sicherheit entfernt werden. Margo sagte bei einem Besuch: «Mir wird übel, wenn ich diesen Tümpel sehe.» Kurz nach ihrem Einzug wäre sie Margo dankbar gewesen. Jetzt war es eine Katastrophe. Ihr Zauberteich.
Mit dem Springbrunnen hatte sie sich längst arrangiert, nahm das Plätschern bewusst fast nicht mehr wahr. Auch mit den Eindrücken von Blut an der Windschutzscheibe früh am Morgen hatte sie sich abgefunden. Die Schuld gehörte nun einmal zu ihrem Leben. Es waren ja auch immer nur ein paar Sekunden.
Zuerst protestierte Marko, aber er gab so schnell nach, als Margo sagte: «Du wirst deines Lebens nie mehr froh, wenn du dein Kind auf diese Weise verlierst.»
Der Springbrunnen wurde in der Garage deponiert. Die Entenfamilie aus Steingut zog um auf ein Stück Rasen nahe der Terrasse. Und kaum standen sie da, zerdepperte Kevin zwei Küken an der Terrassenkante und steckte sich die Scherben in den Mund.
Es wurde nur ganz allmählich besser mit ihm. Mit achtzehn Monaten reagierte er auf ihre Familie und die Nachbarschaft nicht mehr mit Gezeter. Es war möglich, ihm eine Mullwindel anzuziehen und ihn im Buggy durch den Ort zu schieben, ohne ständig gefragt zu werden: «Warum schreit das Kind denn so? Haben Sie ihm was getan?»
Natürlich nicht. Christa gab ihm manchmal einen Klaps, wenn sie sah, dass er nach seiner Mutter schlug. «Was sind denn das für Sitten?», fragte Christa häufig, und einmal sagte sie mit drohend erhobenem Finger zu ihm: «Das Händchen, das die Mama schlägt, das wird im Grabe abgesägt.»
Er war noch sehr klein, aber das verstand er. Danach hob er jedenfalls nicht mehr die Hand gegen sie. Er entwickelte sich von einem schwierigen Baby zum willensstarken
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