Das letzte Opfer (German Edition)
ins Auge. «Da fehlt eine», sagte sie ganz automatisch, danach erst bemerkte sie das Datum. 14. September 1990.
Marko wurde aufmerksam. «Was meinst du, Schatz?»
Ehe sie ihm antworten konnte, sah Norbert, womit sie sich beschäftigte, riss ihr das Magazin aus der Hand und erklärte: «Du liest besser ein paar Kochrezepte, sonst kommst du noch auf die Idee, ihm für das Jahr den alten Saufkopf anzubieten!»
«Hast du einen Knall?», fragte Sarah. «Ich glaube, du gehst besser mal für eine halbe Stunde rauf und sortierst Ammoniten. Vielleicht kühlt das dein Gemüt.»
Norbert murmelte eine Entschuldigung, Sarah schimpfte weiter: «Ich verstehe nicht, warum du dich so darüber aufregst. Es wird keine gezwungen, sich mit so einem Kerl einzulassen. Wenn es ein altes Mütterchen erwischt, das sich nur ein paar Mark Haushaltsgeld von der Bank holen wollte, finde ich das schlimmer. Und dafür gibt es keine vier Seiten im Stern .»
Sarah erzählte von einer alten Frau, die in der Stadtsparkasse etwas Geld abgehoben hatte und dabei beobachtet worden war. Der Täter hatte sie auf dem Nachhauseweg verfolgt und an ihrer Tür geklingelt. Als sie arglos öffnete, hatte er sie in die Wohnung gedrängt und erschlagen – für zweihundert Mark.
«Das ist mein Albtraum», sagte Marko. «Karen rennt immer sofort an die Tür, wenn es klingelt.»
Danach drehte sich das Gespräch nur noch um Vertreter und Bittsteller. Die einen wollten Wintergärten verkaufen oder Regenrinnen reinigen, die anderen trugen so herzergreifend irgendein Elend vor, dass Karen gar nicht umhin kam, ihnen eine Abbuchungserlaubnis zu erteilen. Das hatte Marko ihr verboten, als er feststellen musste, dass sich jeden Monat eine andere mildtätige Organisation an seinem Konto bediente.
Er hatte verlangt, vorher aus dem Fenster zu schauen und sich zu vergewissern, ob ein Fremder vor der Tür stand. Aber das konnte man von den Straßenfenstern aus nicht sehen. Die Haustür befand sich an der Giebelwand neben der Garagenzufahrt. Man musste abwarten, bis derjenige, der geklingelt hatte, sich wieder vom Haus entfernte. Dann musste man hinaus auf die Straße laufen und rufen: «Entschuldige, Mama, ich war gerade im Garten.» Das tat man zweimal, danach nie wieder.
So oft kamen Vertreter oder Bittsteller auch gar nicht in den Amselweg. Norbert hielt Markos Ängste für sehr übertrieben. Er meinte, die Chance, dass mal ein Mörder an ihrer Tür klingele, stünde eins zu einer Million. Das Wochenmagazin hatte er zu einer Rolle gedreht, klopfte sich damit aufs Bein und beobachtete Karen verstohlen, als ob ihm Leid täte, was er gesagt hatte.
Sie war wütend auf ihn, zuerst nur wütend wegen seiner blöden Bemerkung. Kochrezepte! Der Schmerz kam unvermittelt. Plötzlich tat es so weh im Innern, als habe jemand Feuer in ihrer Brust gelegt. Sie sah sich in Christas Schlafzimmer nach dem Schlüssel für den Benz suchen und Norbert bei der Tür auftauchen wie einen Geist. «Warum bist du nicht im Schwarzwald, was machst du hier?», hörte sie sich stammeln.
Es war, als hätte sie in der Zeitung kein Fragezeichen gesehen, sondern einen Haken, der sich tief in ihr Hirn bohrte und all das herausriss, was sie mit romantischen oder bittersüßen Geschichten zugedeckt hatte. Dass sie zu weinen begann, wurde ihr nicht bewusst.
Norbert registrierte es als Erster, weil er kein Auge von ihr ließ. Er entschuldigte sich noch einmal. «Ich hab’s nicht so gemeint.»
Marko nahm sie in den Arm und versuchte, sie zu beruhigen. «Hör auf zu weinen, Schatz, bitte.»
Sie konnte nicht aufhören, auch in den Tagen danach nicht. Bei jeder Kleinigkeit brach sie erneut in Tränen aus. Einmal zerdepperte Kevin einen Teller, nicht den ersten, auch keinen unersetzlichen. Sie hätte losgehen und ein komplettes neues Service kaufen können. Stattdessen weinte sie stundenlang, sammelte die Scherben auf, fügte sie wieder zusammen, klebte noch den kleinsten Splitter ein, nur um festzustellen, dass man den Teller nicht mehr benutzen konnte.
Zwei Tage später ließ Kevin eine Flasche fallen. Die Flasche blieb heil, schlug allerdings eine Kerbe in den Küchenfußboden. Die Glasur einer Fliese splitterte ab, und sie weinte den ganzen Tag, jedes Mal aufs Neue, wenn sie den Schaden sah. Marko war sehr besorgt, als Kevin es ihm am späten Abend erzählte.
«Schatz, das ist doch kein Grund», sagte er. «Norbert kann es bestimmt reparieren.»
Natürlich konnte Norbert das, er kam gleich am
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