Das letzte Opfer (German Edition)
fünfundvierzig Minuten lang anhören wollte, wie er auf Marko herumhackte. Weit kam sie allerdings nicht. Doktor Gerber unterbrach sie schon nach wenigen Sätzen. Und im ersten Moment dachte sie, Sarah hätte ihm doch erzählt, sie habe sich damals mit Jasmins Vater treffen wollen. Aber Sarah hatte sich an die Abmachung gehalten.
Doktor Gerber konnte sich nur nicht vorstellen, dass sie solch ein Risiko eingegangen wäre, ohne Führerschein ins Bergische Land zu fahren, um irgendwo in der Wildnis nach einer Frau zu suchen, die sie nur alle zwei Wochen für wenige Stunden gesehen hatte, Stunden wohlgemerkt, in denen Li arbeiten musste und höchstens mal ein paar Minuten Zeit für eine Unterhaltung mit ihr hatte. «Unter solchen Voraussetzungen kann sich keine intensive Freundschaft entwickeln», sagte er.
«Wir waren auch mal einen ganzen Vormittag zusammen», erklärte sie. Und er lächelte. Die Stunden im Regen, zu zweit unter einem Schirm, wogen bei ihm nicht viel. Er sah es wie Norbert. Für einen Abschied hätte es gereicht, sich am Abend nach Köln fahren zu lassen, wie ihr Bruder es angeboten hatte.
Er hatte keine Ahnung und sich trotzdem nahe herangearbeitet. «Selbst wenn Ihnen diese Frau so wichtig war, dass Sie noch ein paar Stunden mit ihr allein haben wollten, sie im Bergischen Land nicht zu finden, hätte bei Ihnen Frustration auslösen, Sie aber nicht in einen Zustand versetzen dürfen, in dem Sie absolut nichts mehr von dem registrierten, was um Sie herum vorging.»
Als sie ihm darauf nicht antwortete, sagte er: «Scheuch doch mal die Enten weg! Was verbergen die Enten, Frau Stichler? Waren sie real oder sind sie als Symbol zu verstehen?»
Von Enten als Symbol hatte sie noch nie gehört. Bei Schlangen hätte sie sich das eher vorstellen können. Doktor Gerber sah natürlich auch bei Enten eine gewisse Symbolik. Sie konnten fliegen. Er wollte wissen, ob sie gerne mit Li nach China geflogen oder wenigstens bis Frankfurt gefahren wäre.
«Da hätte ich ja wohl kaum meinen Bruder angefleht, mich zu fahren», sagte sie nachdrücklich. «Ich bin sicher, dass die Enten real waren. Wilde Enten. Ich weiß nur nicht, wo ich sie gesehen habe.»
Doktor Gerber intensivierte sein Lächeln. «Dann verbergen die Tiere also etwas. Ein schreckliches Geheimnis? Was könnte denn ein intelligentes Mädchen derart in Panik versetzt haben, dass es wie blind und taub durch die Gegend rast? Das nennt man einen Schockzustand, Frau Stichler. Und den Schock haben Sie meines Erachtens nicht erst beim Zusammenstoß mit dem Radfahrer bekommen, sondern bei den Enten. Da setzt die Erinnerung aus.»
Er irrte sich, ihre Erinnerung setzte auf dem Parkplatz gegenüber der Autobahnauffahrt aus. Aber das hätte er ihr doch erst recht nicht geglaubt, eine Gedächtnislücke von zwei Stunden! Als sie schwieg, stellte er fest: «Übermäßig ängstlich waren Sie nicht, sonst wären Sie gar nicht erst losgefahren. Ein mutiges, achtzehnjähriges Mädchen erschrickt aber nicht derart vor ein paar Enten. Da muss etwas geschehen sein, was Sie als entsetzlich empfanden.»
Er schaute sie an, als warte er auf eine bestimmte Reaktion. Nur wusste sie nicht, wie sie reagieren sollte. Nach ein paar Sekunden schlug er vor: «Wenn Sie es wirklich nicht wissen, wir können es mit Hypnose versuchen.»
«Das möchte ich nicht», sagte sie.
«Denken Sie darüber nach», empfahl er. «Sie haben ein paar Tage Zeit. Wir sehen uns erst am nächsten Dienstag wieder.»
Ihr zweiter Termin in der Osterwoche fiel auf den Karfreitag. Da praktizierte er nicht. «Ich weiß aber noch nicht, ob ich nächsten Dienstag kommen kann», sagte sie.
Doktor Gerber hielt das für ein Ausweichmanöver, das war es nicht. Marko hatte die Aufnahmen für den Katalog beendet. Nun wollte er zwei Wochen Urlaub machen und endlich seinen Traum verwirklichen, den Bildband mit Naturaufnahmen.
In den vergangenen Jahren hatte er nur sporadisch Motive dafür gefunden, jetzt wollte er das Projekt zügig vorantreiben und bestand darauf, dass sie mitkam, Kevin natürlich auch. Norberts Wohnmobil wollte er leihen, um nicht mit einem kleinen Kind von einem Hotelzimmer ins nächste ziehen zu müssen.
Sie hatten noch nie richtig Urlaub gemacht so wie Norbert und Sarah jedes zweite Jahr. Marko mochte nicht fliegen. Und sie fuhr nicht gerne lange Strecken im Auto. Er meinte, im Wohnmobil wäre das etwas anderes. Nur sah sie da keinen Unterschied.
Seit Tagen diskutierten sie darüber. Ein paar
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