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Das letzte Opfer (German Edition)

Das letzte Opfer (German Edition)

Titel: Das letzte Opfer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Hammesfahr
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So war es ja auch nicht gewesen.
    In den ersten Stunden musste sie nicht viel sagen. Natürlich hatte Sarah auch erklärt, wie es nach dem Unfall weitergegangen war. Und darin sah Doktor Gerber die eigentliche Ursache ihrer Depression. Er nahm an, sie sei in Tränen ausgebrochen, weil ihr unvermittelt ihre persönlich Situation bewusst geworden war.
    Was hätte nicht alles aus ihr werden können, wäre sie damals nicht ins Auto ihres Bruders gestiegen? Sie hätte ihr Abitur garantiert mit Bestnote bestanden, bestimmt auch rasch einen Studienplatz gefunden. Oder ihr Vater hätte dafür gesorgt, dass sie doch die Schauspielschule besuchen durfte. Sie könnte heute Ärztin sein, Juristin oder ein Star.
    Stattdessen feierte sie bei ihrer Mutter den Geburtstag eines Kindes, für das sie kaum mehr war als ein Brutkasten, der auch kochen und waschen konnte. Die meiste Zeit saß sie allein zu Hause. Während ihr Mann sich einen guten Namen machte und überall Anerkennung fand, band sie Seidenblumensträuße und Türkränze, durfte auch wieder auf der Bühne stehen, aber nur mit einer dilettantischen Laienspielschar.
    Schon nach der ersten Stunde setzte sie sich an den Computer und hielt fest, wie der Psychologe die Dinge sah und wie sie darüber dachte. Um zu verhindern, dass Marko etwas las, speicherte sie es nicht auf der Festplatte, sondern auf einer Diskette ab.
     
    Anfang April wurde Marko stutzig. Er rief zweimal zu Hause an, während sie bei Doktor Gerber saß. Dass sie im Garten gewesen sei und das Telefon nicht gehört habe, konnte sie ihm nicht weismachen. Kevin berichtete ihm abends brühwarm, er sei wieder mal den ganzen Nachmittag alleine bei Oma Christa, Jasmin und Michael gewesen. Und dass sie neuerdings zweimal pro Woche nach Köln fuhr, um ungestört Einkäufe zu machen und mit Sarah noch einen Kaffee zu trinken, glaubte Marko nur einmal. Er nahm an, es sei ein anderer Mann im Spiel.
    Und darüber sprach er ausgerechnet mit Christa. «Ich glaube, sie hat mich nie wirklich geliebt», sagte er. «Mit den Jahren ist natürlich Sympathie gewachsen und ein Gefühl von Verbundenheit. Wir haben gemeinsam ja auch viel erreicht, unseren Sohn, das schöne Haus, einen hohen Lebensstandard. Es fällt ihr bestimmt nicht leicht, das alles aufzugeben.»
    Als Norbert davon hörte, riet er ihr dringend, die Besuche bei dem Psychologen wieder einzustellen. Doch das wollte sie nicht. Auch wenn oder gerade weil Doktor Gerber für ihr Empfinden sehr übertrieben formulierte, bewirkte er damit etwas, forderte sie zum Widerspruch heraus. Sie lernte zu diskutieren, ihren Standpunkt zu vertreten und sich kritisch mit der Realität auseinander zu setzen. Die Grübeleien über Vergangenes hatten ein Ende gefunden oder waren erneut in den Hintergrund gedrängt worden. Nun analysierte sie ihre Gefühle für Marko und seine Gefühle für sie.
    Er liebte sie sehr, daran hatte sie keine Zweifel. Aber er liebte sie auf eine Art, die ihr ständig ein schlechtes Gewissen verursachte und sie oft erdrückte. Er, immer nur gebend, nie etwas verlangend, immer besorgt, sie auf Händen zu tragen, in Watte gepackt wie eine kostbare Porzellanfigur, die man lieber in einen Schrank stellte, damit sie nicht zerbrach. Sein Schatz eben. Mit einem Schatz ging man vorsichtig um und passte gut auf, dass andere ihn nicht in die Hände nahmen.
    Bis Mitte April drehten sich ihre Gespräche ausschließlich um ihre Ehe. Den Unfall streifte Doktor Gerber nur einmal mit der Frage, warum sie ausgerechnet den Unfallzeugen geheiratet hatte. Hatte sie sich selbst bestrafen wollen? Wartete sie vielleicht insgeheim immer noch darauf, dass ihr Mann endlich tat, was er damals gebrüllt hatte? Sie ersäufen.
    «Nein», sagte sie. «Ich will nicht sterben.»
    «Was dann?», fragte Doktor Gerber. Obwohl er Marko nicht kannte, unterstellte er ihm ein mangelndes Selbstwertgefühl und sprach ihm die Fähigkeit ab, echte Liebe zu empfinden. Echte Liebe ließ einen Freiraum und betrachtete eine Frau nicht als persönlichen Besitz. Er meinte, sie müsse doch längst erkannt haben, dass sie an der Seite ihres Mannes keine Chance habe, ein Leben nach ihren Bedürfnissen zu führen. Sie wurde gegängelt, bevormundet und unter Hausarrest gestellt, nicht anders als bei ihrer Mutter.
    Am Dienstag vor Ostern sprachen sie zum ersten Mal über den schwarzen Freitag im September 1990 und ihre Freundschaft zu Li. Sie schnitt das Thema sogar selbst an, weil sie sich nicht wieder

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