Das letzte Opfer (German Edition)
Mal war sie nahe daran, ihm von Doktor Gerber zu erzählen. Sie tat es nicht. Er hätte doch gefragt, worüber sie mit einem Therapeuten sprach. Und das hätte sie nie über die Lippen gebracht, vor allem nicht, wie Doktor Gerber über ihn dachte.
Sie ließ sich eine Ausrede nach der anderen einfallen. Zuerst einen Besuch bei Margo, die sonst über Ostern alleine wäre. Keine gute Idee. Margo hatte drei Tage im Jahr, an denen sie sich lieber selbst aus dem Weg ging und eigentlich niemanden sehen wollte. Jonas Geburtstag im September, der gleichzeitig Rabeas Todestag war. Rabeas Geburtstag im Januar und der Tag im April, an dem Markos Vater sie verlassen und die jüngste Tochter mitgenommen hatte. Der Tag fiel in diesem Jahr auf Ostern. «Ich glaube nicht, dass Margo Wert auf Gesellschaft legt», sagte Marko auch prompt.
Dass sie sich zu Hause unbedingt einmal blicken lassen müsse, weil ihr Vater da sei, wollte er auch nicht einsehen. «Karlheinz hat bestimmt Verständnis. Wir können ihn während der Ferien besuchen, davon habt ihr beide mehr als von einer Familienrunde.»
Sie erfand noch einen dringenden Termin beim Frauenarzt für den Dienstag nach Ostern, log ihm vor, sie habe die Pille vergessen und ihre Periode nicht bekommen. Das kümmerte ihn auch nicht. «Wenn du noch nicht schwanger bist, dem kann ich unterwegs abhelfen. Ich lasse dich nicht zwei Wochen lang hier allein. Du fährst mit, Ende der Diskussion.»
Sie wollte nicht mitfahren! Aber so weit, sich gegen ihn durchzusetzen, war sie noch nicht. Er kapitulierte erst, als Norbert sich einmischte. Als sie an dem Dienstag mit Sarah aus Köln zurückkam, war Marko schon zu Hause und Norbert bei ihm. Er weigerte sich, sein Wohnmobil zu verleihen. Marko hatte vorausgesetzt, dass er es bekäme.
«Ich dachte, ich hätte mich neulich klar genug ausgedrückt», sagte Norbert. «Was für mein Auto gilt, gilt auch fürs Wohnmobil, ich verleihe nichts mehr. Wenn du mich vorher gefragt hättest, hätten wir das rechtzeitig geklärt. Jetzt wird wohl nichts aus der Tour.»
Marko war sehr wütend und Kevin maßlos enttäuscht. Um dem Jungen wenigstens eine kleine Freude zu machen, fuhr er am Gründonnerstag noch mit ihm in einen Märchenwald. Am Karfreitag brach er kurz nach dem Frühstück auf, ohne sich richtig von ihr zu verabschieden. Kevin weinte noch und schimpfte sie «blöde Mama», als Marko am späten Vormittag zum ersten Mal anrief. Er tröstete Kevin. Das musste er an dem Tag noch öfter tun und nutzte die Gelegenheit jedes Mal, zu erfahren, dass sie keinen Fuß vor die Tür gesetzt und auch keinen Besuch von unbekannten jungen Männern empfangen hatte.
Sein Misstrauen zerrte an ihren Nerven, weil Doktor Gerber in ihrem Hinterkopf unentwegt von mangelndem Selbstwertgefühl sprach. Bei Markos viertem Anruf war Norbert gerade da und fragte anschließend: «Wie weit bist du denn inzwischen mit deinem Seelenklempner?»
«Er will es mit Hypnose versuchen», antwortete sie. «Er meint, es könnte schon etwas passiert sein, bevor ich den alten Mann überfahren habe.»
«Der Mann muss ein Genie sein, wenn er das so schnell erkannt hat», spottete Norbert. «Lässt du es ihn machen?»
Sie schüttelte den Kopf, und Norbert sagte: «Kluges Mädchen. Wenn wirklich vorher was passiert sein sollte und das jahrelang verschüttet war, gibt’s dafür bestimmt gute Gründe. Da sollte man es nicht mit Gewalt an die Oberfläche zerren. Ich halte es für das Beste, wenn du dich nächsten Dienstag bei Gerber bedankst und ihm erklärst, er hätte dir sehr geholfen, jetzt kämst du allein zurecht. Inzwischen geht’s dir doch wirklich viel besser. Dann regt Marko sich auch wieder ab.»
Auch dazu schüttelte sie den Kopf. Sie wollte Doktor Gerber am kommenden Dienstag klarmachen, dass sie für ihr Geld von ihm haben wollte, was sie nötiger brauchte als eine Hypnose: praktische Lebenshilfe. Nicht länger Markos Schatz sein, sondern seine Partnerin, auf die er sich verlassen, der er vertrauen konnte. Die Chance dazu bekam sie nicht mehr.
Zweiter Teil
Barbara
Die letzte Fahrt
Früh um sechs am 22. April 2000, dem Ostersamstag, stieg die zweiundzwanzigjährige Versicherungsangestellte Barbara Lohmann mit einer kleinen Reisetasche in den grauen Peugeot ihres Bruders. Sie wollte nach München fahren – zum letzten Mal. Barbara Lohmann tat an diesem Tag alles zum letzten Mal.
Als Thomas Scheib Anfang Mai endlich informiert wurde, war die Vorgeschichte weitgehend
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