Das letzte Opfer (German Edition)
dokumentiert. Es gab keinen Hinweis auf eine Verabredung mit einem Unbekannten. Barbara hatte weder eine Kleinanzeige aufgegeben noch eine Visitenkarte in Empfang genommen. Sie hatte auch keine neue Bekanntschaft in einem Lokal geschlossen. Sie war ein Typ wie die vor sechs Jahren in München verschwundene Julia Roberts, aber sie hatte keine hochfliegenden Pläne, war zufrieden in ihrem Job. Jeder, der sie gekannt hatte, bezeichnete sie als eine für ihr Alter sehr reife und verantwortungsbewusste junge Frau, die sich nach dem Tod ihrer Mutter rührend um ihren ein Jahr jüngeren Bruder Oliver kümmerte.
Seit drei Jahren lebten die Geschwister allein im Elternhaus am Ortsrand von Frechen, nahe Köln. Das Haus war klein und alt, es hatte ihrer Mutter gehört. Ihr Vater hatte die Familie verlassen, als sich abzeichnete, dass seine Frau dem Tod geweiht war. Danach hatte Oliver eine schlimme Zeit durchgemacht, die Schule abgebrochen, zu trinken begonnen, mit Drogen war er auch in Berührung gekommen. Mit viel Mühe und Einsatz hatte Barbara ihn wieder aufgerichtet und dafür gesorgt, dass er einen Ausbildungsplatz bekam, an dem er sich wohl fühlte.
Oliver Lohmann war in derselben Kfz-Werkstatt beschäftigt wie Karens Bruder, was leider viel zu spät bekannt wurde. Norbert Dierden hatte ihn ein wenig unter seine Fittiche genommen. Wenn Barbara bei ihrem Bruder Mutterstelle vertrat, konnte man Norbert durchaus als Ersatzvater bezeichnen.
Oliver war auf der ganzen Linie abhängig von seiner Schwester. Seine Ausbildungsvergütung wurde auf Barbaras Konto überwiesen und von ihr verwaltet. Er hatte keinen Zugriff, bekam nur ein Taschengeld, das reichte, um seinen Peugeot zu unterhalten, den auch Barbara nutzte. Ein eigenes Auto besaß sie nicht, kam bequem mit dem Bus zur Arbeit, trug mit ihrem Gehalt die Kosten der gemeinsamen Lebensführung und zahlte, wenn sie zusammen etwas unternahmen.
Im vergangenen Sommer hatten sie Urlaub auf Sardinien gemacht. Dort hatte Barbara Stefan Leitner kennen gelernt, er war drei Jahre jünger als sie. Aber für einen Urlaubsflirt spielte das Alter nur eine untergeordnete Rolle. Eine heiße Affäre war es gewesen, für Stefan Leitner die erste, für Barbara mit Urlaubsende eigentlich vorbei. Doch dazu ließ er es nicht kommen.
In den ersten Monaten nach dem Urlaub fühlte sie sich noch geschmeichelt, wenn Stefan anrief, um ein Wochenende bettelte und behauptete, ohne sie könne er nicht mehr leben. Dann wurde es lästig und zu teuer. Immer die weite Fahrt nach München, nur für zwei Tage, wovon sie einen auf der Autobahn verbrachte. Und ohne sie leben konnte Oliver auch nicht. Ihr Bruder stand ihr entschieden näher als der verzogene Bengel aus gutem Haus.
Stefan Leitner war der einzige Sohn eines angesehenen Münchner Juristen. Strafverteidiger war Leitner senior, einer der wenigen, die man bundesweit kannte. Was ihm an Zeit für den Sohn fehlte, machte er mit Geschenken wett. Auch von seiner Mutter wurde Stefan nach Strich und Faden verwöhnt.
Dass ihm einmal ein Wunsch abgeschlagen wurde, kannte er nicht. Barbara in Frechen zu besuchen, kam für ihn bei aller Liebe nicht mehr infrage. Ein einziges Mal war er bei ihr gewesen, hatte auf der Rückfahrt seinen Wagen – Geschenk des Vaters zum achtzehnten Geburtstag – zu Schrott gefahren und bei der Gelegenheit auch seinen Führerschein verloren. Eine Bahnfahrt hielt er für unzumutbar.
Doch das war kaum der wahre Grund, warum er sich im Haus der Geschwister lieber nicht mehr blicken ließ. Stefan Leitner setzte sich nicht gerne mit Oliver auseinander. Wenn Barbaras Bruder einen Anruf entgegennahm, war die erste Frage immer: «Warum lässt du sie nicht endlich in Ruhe? Wie oft muss sie dir denn noch sagen, dass du ihr auf die Nerven gehst?»
Stefan Leitner akzeptierte kein Nein, gewiss nicht von Oliver, aber auch nicht von Barbara. Seit Monaten erklärte sie bei jedem Abschied, es sei ihr letzter Besuch in München gewesen. Eine Beziehung wie die ihre habe doch keine Zukunft. Am letzten Wochenende hatte sie ihm das ihrer Meinung nach unmissverständlich klargemacht. Doch Stefan gab nicht auf.
Die Woche über hatte er nichts erreicht. An ihrem Arbeitsplatz ließ Barbara sich von Kolleginnen verleugnen. Zu Hause ging nur noch der Bruder ans Telefon. Am Karfreitag rief Leitner mindestens zehnmal an, weinte, jammerte, bettelte und sagte schließlich: «Wenn sie nicht kommt, bringe ich mich um.»
«Tu das», erwiderte Oliver. «Dann
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