Das letzte Opfer (German Edition)
Warum habe ich dich wohl die ganzen Monate behandelt wie den letzten Dreck? Ich wollte mir nicht selbst wehtun, verstehst du das?»
«Ja», sagte sie und hörte ihn tief durchatmen.
«Als du ins Wasser gelaufen bist, dachte ich, mir bleibt das Herz stehen», fuhr er fort. «Es war ein entsetzliches Gefühl. Wenn du untergegangen wärst, ich hätte nicht gewusst, was ich tun sollte. Ich wusste nur, dass ich ein Mädchen nicht retten kann, wenn es im Wasser ist. Da habe ich mich eben aufgeführt wie ein arroganter Mistkerl oder ein selbstherrlicher Arsch, so hast du mich ja auch genannt. Aber mir lief nicht die Gerechtigkeit am Hintern raus, glaub mir, es war pure Hilflosigkeit. Ich kann sie nur nicht zeigen wie andere. Ich musste schon mit siebzehn Jahren der starke Mann sein – für Margo. Sie hat sich an mir festgehalten. Ich durfte ihr nie zeigen, dass ich mich oft überfordert fühlte. Mit der Zeit geht einem das in Fleisch und Blut über.»
«Es tut mir Leid», sagte sie.
«Das muss es nicht, Schatz», erwiderte er. «Das konntest du ja nicht wissen. Was machen wir denn nun? Was möchtest du ändern in deinem Leben?»
«Nicht viel», sagte sie. «Ich möchte nur eine Frau sein, der du nicht den starken Mann vorspielen musst.»
«Ich denke, das schaffen wir», meinte er. «Für mich wird es bestimmt einfacher.» Und dann fügte er in sehr ernstem Ton hinzu. «Ich liebe dich. Ich liebe dich mehr, als du dir vorstellen kannst. Allein der Gedanke, dich zu verlieren, macht mich verrückt.»
Am Donnerstag machte er den Vorschlag, einen neuen Teich anzulegen. «Was hältst du davon, Schatz? Kevin ist inzwischen alt genug. Aber diesmal machen wir es richtig, nicht so ein kleines Ding wie zu Anfang.»
Auf Anhieb konnte sie sich nicht für seine Idee begeistern. Er klang richtig enthusiastisch. Und sie dachte, dass er so ein Wasserloch im Garten nötiger brauchte als sie. Der Springbrunnen lag noch in der Garage. Sie warf ihn sofort in die Mülltonne, wollte nicht wieder mit dem Eindruck von Blut an der Windschutzscheibe aufwachen. Aber die Enten wollte sie wieder ans Wasser stellen. Die beiden fehlenden Küken würde außer ihr niemand vermissen.
Freitags ging sie mit Kevin zum Gartencenter, um neue Teichfolie zu besorgen. Eine geschlagene Stunde stand sie mit ihm an den Fischbecken. Er grabschte im Wasser herum, wollte mit bloßen Händen einen jungen Stör fangen, bis ein Verkäufer kam und verlangte, sie solle das unterbinden. Die Folie legte sie in die Garage. Zu graben begann sie nicht sofort. Marko rief am frühen Nachmittag an und empfahl, damit zu warten, bis er wieder zu Hause war, für den Fall, dass Norbert Einwände erhob. Ihr Bruder habe ja von Anfang an gegen die Enten gewettert und wäre bestimmt nicht erfreut, wenn sie wieder im Garten stünden.
Norbert bekam Karen die ganze Woche nicht zu Gesicht. Es war ganz gut so, schuf Abstand zu Julia Roberts’ Brief und allem anderen. Als Norbert am Samstagnachmittag endlich erschien, war er nicht sicher, ob sie überhaupt mit ihm reden wollte. «Ich war am Ostermontag noch hier, ziemlich spät», sagte er. «Und als du nicht aufgemacht hast, dachte ich …»
«Ich war nicht da», unterbrach sie ihn. «Wir haben bei Margo übernachtet.»
Norbert runzelte irritiert die Stirn, nach ein paar Sekunden sprach er weiter, erklärte sein Verlangen nach ihrem Hausschlüssel mit etlichen Einbrüchen, bei denen die Einbrecher über die Dächer eingestiegen waren. Er hatte davon in der Tageszeitung gelesen, die Christa abonniert hatte. «Die schieben ein paar Ziegel weg und sind drin. Ich wollte dich damit nicht beunruhigen, nur mal nachschauen, ob der Dachboden sicher ist. Ich meine, du bist viel allein. Was willst du machen, wenn du im Bett liegst, und plötzlich schiebt einer die Treppe runter? Die stehen in deinem Schlafzimmer, ehe du dich umgedreht hast. Aber ich könnte sie mit einem Riegel sichern.»
Sie nickte nur und fragte: «Hast du etwas Neues von Barbara Lohmann gehört?»
Er schüttelte bedrückt den Kopf, klang ehrlich und aufrichtig besorgt. «Oliver hängt jeden Tag an der Strippe. Am liebsten würde ich runterfahren und ihn nach Hause holen. Wenn da nicht bald was passiert, dreht er völlig durch. Die Sache ist sonnenklar. Aber die Münchner Kripo traut sich nicht, Barbaras Freund festzunehmen. Sie müssen wohl erst mal eine Leiche haben.»
Ein verzweifelter Bruder
So feige, wie Norbert Dierden dachte, war die Münchner Polizei nicht.
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