Das letzte Opfer (German Edition)
Fährlich, aber das hätte er ebenso gut zur Wand sagen können.
Fährlich sprach anschließend noch mit Weigler über die Möglichkeiten, Oliver aus München zu entfernen. Man hätte den Peugeot als nicht verkehrssicher beschlagnahmen, Oliver wegen Landstreicherei festnehmen und in den nächsten Zug nach Köln setzen können. Aber Weigler wollte ihn gar nicht entfernen. Er erhoffte sich von Olivers Anwesenheit einen zusätzlichen Druck auf Stefan Leitner.
Dass Barbaras Bruder seine Drohung wahr machen könnte, sobald sich ihm eine Gelegenheit bot, schloss Weigler aus. Verzweifelte Angehörige ergingen sich oft in Rachephantasien, setzten sie jedoch nur selten in die Tat um, weil es natürliche Hemmschwellen gab. Wenn die entsprechende Veranlagung fehlte, brauchte es extreme Voraussetzungen, um töten zu können. Und zurzeit setzte Stefan Leitner ja auch keinen Fuß vor die Tür. Dafür sorgte sein Vater.
Dass Oliver auf andere Weise Bewegung in die Ermittlungen bringen könnte, erwartete Weigler nicht. Nach seinem Besuch im Polizeipräsidium an jenem Dienstag marschierte Oliver geradewegs zur Redaktion einer Münchner Tageszeitung und erzählte dort seine Version der Geschichte. Danach überstürzten sich die Ereignisse.
Zehn gute Stunden
Der Mittwoch Anfang Mai, an dem in München publik gemacht wurde, man brauche offenbar nur einen gewieften Strafverteidiger zum Vater, um ungestraft eine junge Frau töten zu dürfen, begann für Karen als ein guter Tag. Viele solcher Tage hatte sie wahrhaftig noch nicht gehabt.
Sie wachte auf um kurz vor sieben, als im Nebenzimmer Kevins Bausteine polterten. Er kam nie ins Schlafzimmer. Kaum hatte er morgens die Augen geöffnet, stürzte er sich auf den Karton mit Bausteinen, kippte ihn aus und beschäftigte sich, bis er ihre Schritte auf dem Flur hörte.
Sie blieb noch ein paar Minuten liegen und genoss diese neuen Gefühle. Marko lag im zweiten Bett, nur ein paar Haare lugten heraus. Wie immer lag er mit dem Kopf fast völlig unter dem Laken, das sie nur deswegen zusätzlich zur Decke aufzog. Er war in der Nacht nach Hause gekommen. Im Halbschlaf hatte sie registriert, dass er sich hinlegte, sie auf die Schulter küsste und murmelte: «Schlaf weiter, Schatz. Hast du mich sehr vermisst?»
Natürlich hatte sie ihn vermisst. Sie vermisste ihn immer, wenn es Theater mit Kevin gab. Wer stand schon gerne mit einem willensstarken Dreijährigen an der Kasse im Supermarkt, wenn man eigentlich nur ein Glas Konfitüre kaufen wollte? Und wer zerrte gerne um drei Uhr nachmittags einen kleinen Jungen durch ein Gartencenter, der darauf beharrte: «Die machen bestimmt nicht Tür zu. Du lügs mich. Lass mich, ich will die Fische gucken.»
Häufig machte Marko Großeinkäufe, damit sie nicht so viel schleppen musste. Wenn er tagsüber in Köln zu tun hatte, brachte er Kevin auch ins Bett, selbst wenn er sehr spät nach Hause kam. Er stellte ihn unter die Dusche oder setzte ihn in die Wanne, putzte die Zähne mit ihm, erzählte eine Einschlafgeschichte und sang eine Strophe des alten Liedes vom guten Mond, der so stille in den Abendwolken ging und voller Ruhe war. Das hatte seine Großtante früher für ihn gesungen.
Sie konnte drei Geschichten erzählen und sämtliche Strophen singen, Kevin schlief erst, wenn Marko ihm eine gute Nacht und einen schönen Traum gewünscht hatte.
Aber diesmal hatte sie ihn auch vermisst, wenn Kevin friedlich in seinem Zimmer spielte oder schlief, zumindest in den letzten Tagen. Zum ersten Mal hatte sie sich danach gesehnt, dass ihr Mann nach Hause kam, jeden Abend – seit dem vergangenen Donnerstag und dem ersten, von seiner Seite aus, offenen Gespräch, dem noch ein paar gefolgt waren. In den wenigen Tagen hatte Marko so viel über sich und seine Gefühle verraten, dass sie ihn nun mit völlig anderen Augen sah. Und sie hoffte inständig, dass auch sie irgendwann aus ehrlichem Herzen sagen könnte: «Ich liebe dich.» Das Herz musste nicht flattern dabei, sie war nicht mehr fünfzehn, wollte nicht über den Wolken schweben, nur festen Boden unter den Füßen haben.
Als sie ins Bad ging, schaute Kevin hinaus auf den Flur. «Ist Papa wieder da?»
Sie nickte nur, nahm an, dass Marko noch einige Stunden schlafen und dann zur Agentur fahren wollte, um etliche Filme voller Natur zu entwickeln. Kevin kam auf nackten Füßen bis zur Schlafzimmertür. «Bist du schon wach, Papa?»
«Nein», brummte Marko undeutlich unter dem Laken.
Und Kevin sprudelte los:
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