Das Letzte Protokoll
in einer tiefen Fettfalte.
Dr. Touchets Finger tasten in ihrer Achselhöhle herum.
Die Fenster des Untersuchungszimmers haben Milchglassche i ben, und ihre Bluse hängt an einem Haken an der Tür. In diesem Zimmer hat Misty Tabbi auf die Welt gebracht. Blassgrüne K a chelwände und ein weiß gefliester Fußboden. Es war auf diesem Untersuchungstisch. Peter wurde hier geboren. Und Paulette. Will Tupper. Matt Hyland. Brett Petersen. Und alle anderen auf der Insel, soweit sie unter fünfzig sind. Die Insel ist so klein, da muss Dr. Touchet auch als Leichenbestatter fungieren. Er hat P e ters Vater, Harrow, für die Totenfeier zurechtg e macht. Für die Einäsch e rung.
Deinen Vater.
Harrow Wilmot hatte alles dargestellt, was Misty sich von Peter erwartete. So wie Männer ihre künftige Schwi e germutter kennen lernen möchten, um sich ein Bild davon zu machen, wie ihre Ve r lobte in zwanzig Jahren aussehen wird, genauso hat Misty das auch gemacht. Harry war der Mann, mit dem Misty in ihren mittleren Jahren verheiratet wäre. Groß gewachsen, graue Kot e letten, gerade Nase und ein langes Kinn mit tiefem Grübchen.
Wenn Misty heute die Augen schließt und sich Harrow Wilmot vorzustellen versucht, sieht sie nur, wie seine Asche von der Klippe am Ende der Landspitze verstreut wird. Eine lang gez o gene graue Wolke.
Ob Dr. Touchet dieses Zimmer auch zum Einbalsamieren der Leichen benutzt, weiß Misty nicht. Falls er noch so lange lebt, wird er Grace Wilmot zurechtmachen. Dr. To u chet war gerufen wo r den, als man Peter gefunden hatte.
Als man dich gefunden hatte.
Wenn sie den Stecker rausziehen, wird wahrscheinlich er es sein, der die Leiche zurechtmacht.
Deine Leiche.
Dr. Touchet tastet sie unter beiden Armen ab. Nach Knoten. Nach Krebs. Er weiß, wo man aufs Rückgrat drücken muss, d a mit sich einem der Kopf nach hinten legt. Die falschen Perlen im Nackenspeck. Seine Augen, die Pupillen stehen zu weit ause i nander, als dass er einen direkt ansehen könnte. Er summt vor sich hin. Richtet den Blick auf etwas anderes. Man spürt, dass er es g e wohnt ist, mit Toten zu arbeiten.
Misty sitzt auf dem Untersuchungstisch und beobachtet sie beide im Spiegel. Sie sagt: »Was war da früher auf der Landspi t ze?«
Und Dr. Touchet zuckt erschrocken zusammen. Er blickt auf, die Augenbrauen überrascht hochgezogen.
Als hätte da plötzlich eine Leiche gesprochen.
»Draußen auf der Landspitze«, sagt Misty. »Da gibt es St a tuen, als ob da früher mal ein Park gewesen ist. Was war da?«
Sein Finger bohrt sich tiefer zwischen die Sehnen in ihrem N a cken, und er sagt: »Bevor wir das Krematorium bekommen h a ben, war da unser Friedhof.« Wenn seine Finger nicht so kalt w ä ren, würde sich das gut anfühlen.
Aber Misty hat überhaupt keine Grabsteine gesehen.
Seine Finger tasten nach Lymphknoten unter ihrem Kinn. Er sagt: »Irgendwo in den Berg da draußen ist ein Mausoleum hi n eingegraben.« Er starrt an die Wand, ru n zelt die Stirn und sagt: »Mindestens zweihundert Jahre alt. Grace könnte Ihnen mehr darüber erzählen als ich.«
Die Höhle. Das kleine Bankgebäude. Der Regierungssitz mit den schicken Säulen und dem gemeißelten Torbogen: und das alles verfallen und nur von Baumwurzeln z u sammengehalten. Das ve r schlossene Eisentor. Das Dunkel dahinter.
Ihr Kopfschmerz treibt den langen, langen, langen Nagel tiefer hinein.
Die Diplome an der grün gekachelten Wand des Unters u chungszimmers sind vergilbt, ganz verschwommen hi n ter dem Glas. Vo l ler Wasserflecken. Und Fliegendreck. Daniel Touchet, Doktor der Medizin. Er nimmt ihr Han d gelenk zwischen zwei Finger, sieht auf seine Armbanduhr und misst ihr den Puls.
Sein Triangularis zieht ihm die Mundwinkel nach unten. Er drückt ihr das kalte Stethoskop zwischen die Schulte r blätter. Er sagt: »Misty, holen Sie einmal tief Luft. Und nicht ausatmen.«
Kalt tappt das Stethoskop auf ihrem Rücken herum.
»Jetzt ausatmen«, sagt er. »Und noch einmal tief Luft h o len.«
Misty sagt: »Wissen Sie, ob bei Peter eine Vasektomie vorg e nommen wurde?« Sie atmet tief ein und sagt: »Peter hat mir, damit ich nicht abtreibe, erzählt, dass Tabbi ein Wunder sei, das Gott geschickt habe.«
Und Dr. Touchet sagt: »Misty, wie viel trinken Sie so am Tag?«
Was für eine beschissene kleine Stadt. Und die arme Misty M a rie hier ist die Saufnase.
»Im Hotel war ein Polizist«, sagt Misty. »Er hat gefragt, ob wir hier auf der Insel den Ku-Klux-Klan
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