Das Letzte Protokoll
Notaufnahme hatten sie die Leiche einer Frau, einer jungen Frau, die nackt und mit hundert Stic h wunden im Bauch in einem Graben gefunden worden war. Mistys Mutter war den ganzen Weihnachtstag mit dem Auto unterwegs, um sich die verstü m melte Leiche dieser Unbekannten ansehen zu können. Während Peter und Misty durchs Mittelschiff der Kirche von Waytansea schritten, hielt ihre Mutter die Luft an und sah zu, wie ein Pol i zist den Rei ß verschluss eines Leichensacks aufzog.
In diesem früheren Leben rief Misty ihre Mutter erst ein paar T a ge nach Weihnachten an. Sie saß bei den Wilmots zu Hause hinter einer verschlossenen Tür und spielte mit dem Schrot t schmuck herum, den Peter ihr geschenkt hatte, Strass und fa l sche Perlen. Auf ihrem Anrufbeantworter hörte sie sich ein Dutzend panischer Nachrichten ihrer Mutter an. Als sie dann endlich die Nummer in Tecumseh Lake gewählt hatte, legte ihre Mutter ei n fach wieder auf.
Keine große Sache. Misty weinte ein bisschen, und dann rief sie ihre Mutter nie mehr an.
Schon fühlte sie sich auf Waytansea Island mehr zu Ha u se als jemals in ihrem Wohnwagen.
Der Feueralarm schrillt weiter durchs Hotel, und durch die Tür sagt jemand: »Misty? Misty Marie?« Es klopft. Eine Männe r stimme.
Und Misty sagt: »Ja?«
Der Alarm wird laut, weil die Tür aufgeht, dann wieder leise. Ein Mann sagt: »Gott, wie das hier stinkt!« Es ist Angel Delapo r te , der gekommen ist, sie zu retten.
Nur um das festzuhalten: Das Wetter heute ist hektisch, p a nisch, ein wenig hastig, als Angel ihr das Band vom G e sicht reißt. Er nimmt ihr den Pinsel aus der Hand. Angel schlägt sie einmal auf jede Wange, kräftig, und sagt: »Wach auf. Wir haben nicht viel Zeit.«
Angel Delaporte schlägt sie, wie man im spanischen Ferns e hen eine dumme Schlampe schlägt. Misty, nur noch Haut und Kn o chen.
Der Feueralarm schrillt unablässig.
Misty blinzelt in das Sonnenlicht, das durch ihr eines kleines Fenster fällt. Sie sagt: Hör auf. Misty sagt, was soll das. Sie muss malen. Was anderes hat sie nicht mehr.
Das Bild vor ihr zeigt einen Himmel, schmutzig blau und weiß; der Himmel ist längst noch nicht fertig, füllt aber das ganze P a pier. Neben der Tür stehen weitere Bilder, mit dem Gesicht zur Wand. Auf der Rückseite jeweils eine Nummer. Achtundneu n zig. Auf einem anderen steht neunundneunzig.
Der Alarm schrillt immer weiter.
»Misty«, sagt Angel. »Ich weiß zwar nicht, was das hier für ein Experiment ist. Aber du bist fertig.« Er geht zu ihrem Kleide r schrank und nimmt einen Bademantel und Sandalen heraus. Er kommt damit zurück, steckt ihr die Füße in die Sandalen und sagt: »Höchstens noch zwei M i nuten, dann weiß man, dass das ein fa l scher Alarm ist.«
Angel greift ihr unter die Arme und hebt sie auf die Füße. Er macht eine Faust, schlägt an ihren Verband und sagt: »Was soll das hier eigentlich?«
Misty fragt, weshalb er gekommen ist.
»Diese Pille, die du mir gegeben hast«, sagt Angel, »d a von habe ich die schlimmste Migräne meines Lebens b e kommen.« Er wirft ihr den Bademantel über die Schultern und sagt: »Ich habe die andere von einem Chemiker an a lysieren lassen.« Er bugsiert ihre müden Arme in die Ä r mel des Bademantels und sagt: »Ich weiß ja nicht, was für einen Arzt du hast, aber diese Kapseln enthalten Bleipu l ver und Spuren von Arsen und Quecksilber.«
Die toxischen Bestandteile von Ölfarben. Vandyke-Rot enthält Ferrocyanid. Scharlachrot: Quecksilberjodid. Kremserweiß: Ble i karbonat. Kobaltviolett: Arsen. - Alle diese schönen, von Küns t lern geschätzten Präparate und Pigmente erweisen sich als tö d lich. Wie der Traum, ein Meisterwerk zu schaffen, einen erst in den Wahnsinn treibt, um einen schließlich umzubringen.
Die perfekten Kurven und Winkel von Misty Marie Wilmot , der vergifteten, vom Teufel, Carl Gustav Jung und Stanislawski b e sessenen Drogensüchtigen.
Misty sagt, sie versteht nicht. Misty sagt, Tabbi, ihre Tochter. Tabbi ist tot.
Und Angel erstarrt. Er hebt überrascht die Augenbrauen und sagt: »Wie?«
Vor ein paar Tagen. Oder Wochen. Misty weiß es nicht. Tabbi ist ertrunken.
»Bist du dir da sicher?«, sagt er. »In der Zeitung hat nichts g e standen.«
Nur um das festzuhalten, Misty ist sich überhaupt keiner S a che sicher.
Angel sagt: »Hier riecht's nach Urin.«
Es ist ihr Katheter. Er ist herausgezogen worden. Sie zi e hen eine Urinspur von ihrer Staffelei durchs Zimmer bis auf den Teppic h
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