Das letzte Relikt
sagte Ezra und lehnte sich so weit zurück, dass die Vorderbeine seines Stuhls sich vom Boden lösten. »Ich habe ihn getroffen.«
Jetzt, dachte Carter, bin ich ganz unten im Kaninchenloch und auf direktem Weg ins Wunderland. »Du hast«, sagte er langsam, »diesen Engel getroffen?«
»Er war auf der Spendenparty für den Bürgermeister in unserer Wohnung.«
Meinte er das ernst?
»Und ich habe den starken Verdacht, dass er meine Stiefmutter schwer verletzt hat. Deshalb sagte ich, dass ich noch nicht weiß, was seine Absichten sind. Da tappe ich ebenso im Dunkeln wie du.«
Betrübt schüttelte Carter den Kopf. »Das bezweifle ich.«
»Bones«, sagte Joe mit kaum hörbarer Stimme, »du bist Wissenschaftler. Sieh dir die Beweise an.«
»Joe, das würde ich gerne, aber es gibt keine.«
Joe hob die Hände, als wollte er sagen
Sieh mich an. Sieh dir alles an, was passiert ist. Wie willst du das alles sonst erklären?
»Sag nicht, du hättest dir nicht … schon deine eigenen Gedanken gemacht«, sagte er, und Carter hatte das Gefühl, sein Freund würde in ihn hineinblicken, geradewegs in seinen Kopf. Es stimmte, es gab Dinge, die Carter nicht leugnen konnte, nicht einmal vor sich selbst. Er dachte zurück an die letzte Nacht, als er in der
Aeneis
die Zeilen über Avernus gefunden hatte. Und an heute Morgen, als seine Nachforschungen in der Bibliothek den Rest zutage gefördert hatten.
Joe musste etwas in seinem Gesichtsausdruck gesehen haben. »Da ist etwas, das du uns sagen willst«, sagte er. »Etwas, das du erfahren hast.«
»Nein, da ist nichts«, sagte Carter und versuchte, den Gedanken beiseitezuschieben.
»Das
ist
etwas«, beharrte Joe. »Ich habe diesen Blick vor Jahren schon einmal gesehen, auf Sizilien.«
Ezra wartete. »Je verrückter es dir vorkommt, desto lieber möchte ich es hören.«
Aber Carter hatte das Gefühl, dass er, wenn er es laut ausspräche, wenn er auch nur einen Zeh in das sumpfige Wasser steckte, nie wieder sicher aus der Sache herauskäme. Mit jeder Faser seiner Existenz sträubte er sich dagegen, diesen düsteren Morast zu betreten.
Aber hatte er das nicht schon längst getan? Hatte er unbewusst den ersten Schritt nicht bereits in dem Moment gemacht, in dem ihm der absolut seltsame Verdacht in den Sinn gekommen war? Oder zumindest, als er ihm heute Morgen in den Regalen der Forschungsbibliothek der Universität nachgegangen war?
»Es ist nur ein merkwürdiger Zufall«, sagte Carter.
»Manchmal ist es vielleicht mehr als das«, sagte Ezra. »Wir werden es nicht wissen, solange du es uns nicht sagst.«
Joes mühsames Atmen war das lauteste Geräusch im Raum.
»Es hat etwas mit dem Ort zu tun, an dem das Fossil gefunden wurde«, räumte Carter ein.
»Lago d’Averno«, sprang Joe ein, »in der Nähe von Neapel.«
»Was ist damit?«, fragte Ezra ungeduldig.
»Nun, dem römischen Dichter Vergil zufolge ist das ein sehr interessanter Ort. In der
Aeneis
schrieb er, dass es dort einen Zugang gäbe … einen Zugang zur Unterwelt.«
Ezra und Joe reagierten mit bestürztem Schweigen.
»Seit Tausenden von Jahren«, fuhr Carter widerstrebend fort, »gibt es in den lokalen Legenden und dem überlieferten Wissen Geschichten darüber, wie dieses Tor beschaffen ist.«
»Wie?«, krächzte Joe.
Ezra wartete einfach ab.
»Als der Erzengel Michael die rebellierenden Engel bezwang, warf er sie aus dem Himmel«, sagte Carter und konnte kaum fassen, dass er so weit ging. »Und sie stürzten in die Tiefe.«
»Laut der Schriften sechs Tage und Nächte lang«, fügte Ezra leise hinzu.
»Ja. Sie schlugen wie Meteore auf dem Boden auf und wurden von den Eingeweiden der Erde verschlungen. Genau dort, wo wir das Fossil gefunden haben.«
Joe schloss die Augen und murmelte leise ein Gebet. Nach ein paar Sekunden rührte Ezra sich auf seinem Stuhl. »Für mich hört sich das ganz und gar nicht verrückt an.« Aber er bedachte Carter mit einem taxierenden Blick. »Und wie klingt es für einen Mann der Wissenschaft?«
Doch Carter war sich nicht länger sicher. Über gar nichts. Er wühlte in seiner Aktentasche herum, holte das Kruzifix heraus, stand auf und reichte es Joe.
Ezra lächelte. Als hätte er seine Antwort erhalten.
30 . Kapitel
Wenn Beth nicht versprochen hätte, mit Abbie zusammen die letzten paar Sachen für das Landhaus zu besorgen, wäre sie vermutlich direkt nach Hause gegangen, hätte die Tür abgeschlossen und ein langes heißes Bad genommen. Aber sie hasste es, ihre Freundin
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