Das letzte Revier
nicht die Gerechtigkeit. Ich spüre es. Ich bin mir sicher. Mike Mitchell ist kein Staatsanwalt mehr. Er ist Gouverneur. Warum bin ich überrascht? Was habe ich erwartet?
Das Stadtzentrum wirkt unfreundlich und fremd, als ich die Achte Straße zur Schnellstraße entlang fahre. Ich studiere die Gesichter der Menschen, die mir entgegenkommen, und wundere mich, dass keiner von ihnen im Hier und Jetzt anwesend ist. Sie fahren und blicken in den Spiegel, langen nach etwas auf dem Beifahrersitz, hantieren am Radio, telefonieren oder sprechen mit ihren Mitfahrern. Sie bemerken die Fremde nicht, die sie beobachtet. Ich sehe ihre Gesichter so deutlich, dass ich sagen kann, ob sie attraktiv oder hübsch oder von Aknenarben entstellt sind, oder ob sie gute Zähne haben. Mir wird klar, dass ein wesentlicher Unterschied zwischen Mördern und Mordopfern darin besteht, dass die Mörder präsent sind. Sie leben im Augenblick, nehmen ihre Umgebung wahr, sind sich jedes Details bewusst und kalkulieren, ob es ihnen nützen oder schaden wird. Sie beobachten Fremde. Sie fixieren ein Gesicht und entscheiden, ob sie der Person folgen werden. Ich frag e mich, ob auf diese Weise meine jüngsten Patienten, die beiden jungen Männer, ausgewählt wurden. Ich frage mich, mit welcher Art Raubtier ich es zu tun habe. Ich frage mich, was der wahre Grund war, warum der Gouverneur mich heute Abend sehen wollte, und warum er und seine Frau den Fall aus Jamestown City County ansprachen. Irgendetwas geht hier vor. Etwas Ungutes.
Ich höre meinen Anrufbeantworter zu Hause ab. Sieben Nachrichten wurden hinterlassen, drei davon von Lucy. Sie sagt nicht, was sie will, nur dass ich sie zurückrufen soll. Ich versuche es auf ihrem Handy, und als sie sich meldet, spüre ich ihre Nervosität. Sie ist nicht allein. »Alles in Ordnung?«, frage ich sie. Sie zögert. »Tante Kay, ich möchte mit Teun vorbeikommen.«
»McGovern ist in Richmond?«, frage ich überrascht. »Wir könnten in einer Viertelstunde bei Anna sein«, sagt Lucy. Signale stürmen auf mich ein. Ich kann nicht ausmachen, was sich in meinem Unterbewusstsein regt und mir eine überaus wichtige Wahrheit vor Augen führen will. Was ist es, verdammt noch mal? Ich bin beunruhigt, nervös und verwirrt. Hinter mir drückt ein Autofahrer auf die Hupe, und mein Herz überschlägt sich. Ich schnappe nach Luft. Die Ampel hat auf Grün geschaltet. Der Mond ist nicht voll und von Wolken verschleiert, der James River eine dunkle Ebene unter der Huguenot Bridge, als ich auf die Südseite der Stadt fahre. Ich parke vor Annas Haus hinter Lucys Suburban, und sofort geht Annas Haustür auf. Lucy und McGovern sind anscheinend gerade angekommen. Beide stehen zusammen mit Anna unter dem kristallenen Kronleuchter in der Halle. McGovern schaut mir in die Augen und lächelt beruhigend, als wollte sie mich wissen lassen, dass alles gut werden wird. Sie trägt das Haar kurz geschnitten und ist noch immer eine sehr attraktive Frau, schlank und jungenhaft in schwarzen Leggings und einer langen Lederjacke. Wir umarmen uns, und ich spüre, dass sie stark und kompetent ist , aber auch herzlich. Ich freue mich, sie zu sehen, ich freue mich sehr.
»Kommt rein, kommt rein«, sagt Anna. »Fröhliche Weihnachten, fast. Das ist ja eine Freude!« Aber ihre Miene zeugt von allem Möglichen, nur nicht von Freude. Sie wirkt erschöpft, ihre Augen blicken besorgt und müde. Sie merkt, dass ich sie anstarre, und versucht zu lächeln. Wir gehen alle in die Küche. Anna fragt, was wir trinken oder essen möchten. Haben alle schon gegessen? Wollen Lucy und McGovern über Nacht bleiben? Die Nacht vor Weihnachten sollte niemand in einem Hotel verbringen - das wäre kriminell. Sie redet und redet, und ihre Hände zittern, als sie Flaschen aus einem Schrank holt, und Whiskys und andere Schnäpse aufreiht. Die Signale stürmen jetzt mit solcher Geschwindigkeit auf mich ein, dass ich kaum noch höre, was gesagt wird. Dann folgt der Schock des Begreifens. Ich verstehe. Die Wahrheit durchfährt mich wie ein elektrischer Schlag, als Anna mir einen Scotch eingießt.
Zu Berger habe ich gesagt, dass ich keine tiefen, dunklen Geheimnisse hätte. Ich meinte damit, dass ich immer sehr zurückhaltend bin. Ich erzähle den Leuten nichts, was sie gegen mich verwenden könnten. Ich bin von Natur aus vorsichtig. Aber in letzter Zeit habe ich mit Anna gesprochen. Wir verbrachten Stunden damit, meine tiefsten Schichten zu erforschen. Ich habe ihr Dinge
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