Das letzte Revier
antwortet sie vage. »Wer hier war, weiß ich nicht. Elf hatten eingecheckt. Mit ihm.«
»Einschließlich des Mannes, der bei dem Brand umkam?« Jetzt bin ich an der Reihe, Fragen zu stellen. Kiffin wirft mir einen Blick zu. »So ist es.«
»Erzählen Sie mir, wie er eingecheckt hat«, sagt Marino zu ihr, als wir stehen bleiben, um uns umzusehen, und dann unseren Weg fortsetzen. »Haben Sie gesehen, wie er vorfuhr, so wie wir vorhin? Man kann ja einfach mit dem Wagen vor Ihr Haus fahren.« Sie schüttelt den Kopf. »Nein, Sir. Ich habe kein Auto gesehen. Es hat an die Tür geklopft, und ich habe aufgemacht. Dann habe ich ihm gesagt, er soll zur Rezeption nebenan gehen, ich würde auch hinkommen. Er war ein gut aussehender Mann, gut angezogen. Nicht so wie die Leute, die hier normalerweise auftauchen. Das steht fest.«
»Hat er seinen Namen genannt?«, fragt Marino.
»Er hat bar bezahlt.«
»Wenn jemand bar beza hlt, muss er kein Anmeldeformular ausfüllen?«
»Er kann, wenn er will, muss aber nicht. Ich habe ein Formular, das füllt man aus, dann reiße ich die Quittung unte n ab. Er hat gesagt, er braucht keine Quittung.« »Sprach er mit Akzent?«
»Er hat nicht geklungen, als wäre er aus der Gegend.«
»Können Sie sagen, wie er geklungen hat? Wie aus dem Norden? Vielleicht war er Ausländer?«, fährt Marino fort, als wir unter einer Kiefer erneut stehen bleiben.
Sie schaut sich um, denkt nach und raucht, als wir ihr auf dem matschigen Pfad folgen, der auf den Parkplatz des Motels führt. »Jedenfalls nicht aus dem tiefen Süden«, sagt sie. »Aber wie ein Ausländer klang er auch nicht. Er hat nicht viel gesagt. Nur so viel, wie er unbedingt sagen musste. Ich hatte ein komisches Gefühl, wissen Sie, als ob er es eilig hätte oder nervös wäre, und zum Plaudern war er bestimmt nicht aufgelegt.« Das klingt wie vorfabriziert. Sogar ihr Tonfall hat sich verändert. »Was ist mit den Wohnwagen?«, fragt Marino als Nächstes. »Ich vermiete sie. Zurzeit kommen die Leute nicht mit dem eigenen Wohnwagen. Es ist keine Campingsaison.«
»Hat zurzeit jemand einen Wohnwagen gemietet?«
»Nein. Niemand.«
Vor dem Hotel steht neben einem Coca-Cola-Automaten und einem Münztelefon ein Sessel mit zerrissenem Polster. Auf dem Parkplatz sind mehrere Autos abgestellt, nur alte amerikanische Modelle. Ein Granada, ein LTD, ein Firebird. Von den Besitzern keine Spur.
»Wer kommt um diese Jahreszeit?«, frage ich. »Eine Mischung«, sagt Kiffin, als wir über den Parkplatz zum Südende des Motels gehen. Ich schaue mir den nassen Asphalt an.
»Leute, die zu Hause Krach haben. Davon gibt's zu dieser Jahreszeit 'ne Menge. Man gerät über Kleinigkeiten aneinander, und der eine oder andere geht oder wird rausgeworfen und braucht einen Ort, wo er bleiben kann. Oder manche, die eine weite Strecke fahren, um Verwandte zu besuchen, und hie r übernachten. Oder wenn wie vor zwei Monaten der Fluss über die Ufer tritt, dann kommen die Leute hierher, weil ich Haustiere erlaube. Und Touristen.«
»Touristen, die sich Williamsburg und Jamestown ansehen?«, frage ich.
»Nicht wenige, die Jamestown sehen wollen. Das sind mehr geworden, seitdem sie hier Gräber ausbuddeln. Die Leute sind schon komisch.«
22
Zimmer 17 befindet sich im Erdgeschoss ganz am Ende. Leuchtend gelbes Band hängt quer vor der Tür. Es ist ein abgelegener Ort, am Rand eines dichten Waldes, der als Puffer zwischen der Route 5 und dem Motel steht.
Ich interessiere mich vor allem für jede Art von Pflanzenresten oder Unrat, Dinge, die möglicherweise direkt vor dem Zimmer auf dem Asphalt zu finden sind. Hierhin hat die Rettungsmannschaft die Leiche gezogen. Ich sehe Erde, Reste von vertrockneten Blättern und Zigarettenkippen. Ich frage mich, ob das Stück Einwickelpapier, das auf dem Rücken des Toten klebte, aus dem Zimmer selbst oder vom Parkplatz stammte. Wenn es aus dem Zimmer stammte, dann könnte es der Mörder an den Schuhen hineingetragen haben; es könnte bedeuten, dass der Mörder vor dem Mord über den verlassenen Zeltplatz oder nahe daran vorbeigegangen ist, oder aber das Stück Papier war schon länger in dem Zimmer, vielleicht hat Kiffin es hereingetragen, als sie sauber machte, nachdem der letzte Gast abgereist war. Beweise sind knifflig. Man muss sich immer überlegen, woher sie ursprünglich stammen, und darf keine Schlussfolgerungen ziehen, die auf der Fundstelle des Beweises basieren. Fasern an einer Leiche zum Beispiel können von
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