Das letzte Revier
»Weißt du, was ihr die Lehrerin ins Zeugnis geschrieben hat? Hier! Ich lese es dir vor. Lucy arbeitet und spielt nicht gut mit anderen Kindern zusammen. Sie gibt an und weiß immer alles und nimmt ständig Dinge auseinander wie zum Beispiel den Bleistiftspitzer und Türknäufe.«.
Lucy ist lesbisch. Das ist vielleicht am ungerechtesten, denn diesem Schicksal kann sie nicht entkommen. Homosexualität ist ungerecht, weil sie zu Ungerechtigkeiten führt. Aus diesem Grund brach es mir das Herz, als ich davon erfuhr. Ich möchte nicht, dass sie leidet. Und jetzt zwinge ich mich auch, das Offensichtliche nicht länger zu ignorieren. Das ATF wird nicht großzügig oder nachsichtig reagieren, und Lucy weiß das wahrscheinlich schon eine Weile. Die Verwaltung in D.C. wird nicht sehen, was sie alles erreicht hat, sondern sie durch die verzerrende Linse von Vorurteilen und Neid betrachten.
»Es wird eine Hexenjagd werden«, sage ich, nachdem Lucy aus dem Haus ist.
Anna schlägt Eier in eine Schüssel. »Sie wollen sie loswerden, Anna.«
Sie wirft die Schalen in die Spüle, öffnet den Kühlschrank, holt eine Tüte mit Milch heraus und überprüft das Verfallsdatum. »Manche halten sie für eine Heldin«, sagt sie. »Polizei und Geheimdienste tolerieren Frauen. Sie feiern sie nicht und bestrafen diejenigen, die zu Heldinnen werden. Das ist das schmutzige kleine Geheimnis, über das niemand reden will«, sage ich. Anna verquirlt die Eier energisch mit einer Gabel.
»Es ist auch unsere Geschichte«, fahre ich fort. »Wir haben Medizin studiert zu einer Zeit, als wir uns dafür entschuldigen mussten, dass wir Männern den Studienplatz wegnahmen. I n manchen Fällen wurden wir kaltgestellt und ausgegrenzt. Als ich anfing, Medizin zu studieren, fingen außer mir nur noch drei andere Frauen an. Wie viele waren es bei dir?«
»In Wien war es anders.«
»In Wien?« Ich bin verwirrt. »Da habe ich studiert«, sagt sie.
»Oh.« Ich fühle mich schuldig, weil ich wieder etwas über meine gute Freundin erfahren habe, das ich bislang nicht wusste. »Als ich hierher kam, war es genau so, wie du es beschreibst.« Annas Mund ist eine schmale Linie, als sie die Eiermasse in eine gusseiserne Pfanne gießt. »Ich weiß noch, wie es war, als ich nach Virginia kam. Wie ich behandelt wurde.«
»Glaub mir, ich kann es mir nur zu gut vorstellen.«
»Das war dreißig Jahre vor deiner Zeit, Kay. Du kannst es dir nicht wirklich vorstellen.«
Eier dampfen und blubbern. Ich lehne an der Küchentheke, trinke schwarzen Kaffee, wünschte, ich wäre wach gewesen, als Lucy gestern Abend kam. Es schmerzt mich, dass ich nicht mit ihr reden konnte. Ich musste die Neuigkeiten quasi nebenbei herausfinden. »Hat sie mit dir gesprochen?«, frage ich Anna. »Über das, was sie uns gerade erzählt hat?«
Sie rührt in den Eiern. »Im Nachhinein glaube ich, dass sie mit dem Champagner aufgekreuzt ist, weil sie es dir erzählen wollte. Eine ziemlich unangemessene Geste angesichts ihrer Neuigkeiten.« Sie nimmt englische Vollkornmuffins aus dem Toaster. »Man geht immer davon aus, dass Psychiater ständig tief schürfende Gespräche führen, aber tatsächlich sprechen die Leute nur selten über ihre wahren Gefühle, obwohl sie mich bezahlen.« Sie trägt unsere Teller zum Tisch. »Meistens erzählen mir die Leute, was sie denken. Das ist das Problem. Die Leute denken zu viel.«
»Sie werden nicht offen vorgehen.« Ich bin wieder beim ATF, als Anna und ich uns an den Tisch setzen. »Sie werden verdeckt angreifen, wie das FBI. Und in Wahrheit wollte das FBI sie au s demselben Grund loswerden. Ihr Stern war am Aufgehen, sie war ein Computergenie, eine Helikopterpilotin, die erste Frau in einem Geiselbefreiungsteam.« Ich zähle Lucys Karrierestufen auf, während Annas Miene zunehmend skeptisch wird. Wir wissen beide, dass mein Resümee unnötig ist. Sie kennt Lucy seit ihrer Kindheit. »Dann wurde die Lesben-Karte gespielt.« Ich kann nicht aufhören. »Sie ist zum ATF, und jetzt ist es wieder so weit. Ein ums andere Mal wiederholt sich die Geschichte. Warum siehst du mich so an?«
»Weil du dich wegen Lucys Problemen aufreibst, wenn deine eigenen sich höher türmen als der Mont Blanc.« Ich schaue aus dem Fenster. Ein Eichelhäher bedient sich am Vogelfutter, plustert sich auf, Schalen von Sonnenblumenkernen fallen zu Boden und liegen auf der verschneiten Erde wie Schrotkugeln. Blasse Sonnenstrahlen durchdringen hier und da den grauen Morgen. Ich drehe
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