Das letzte Revier
Krokodilshaut. »Benton wusste, dass ich Freiraum brauche. Auch an Abenden, an denen wir miteinander geschlafen hatten, wartete ich manchmal, bis er eingeschlafen war, dann stand ich heimlich wie eine Ehebrecherin auf und schlich in mei n Arbeitszimmer. Er verstand meine Untreue.« Ich spüre, dass Anna im Dunkeln lächelt. »Er hat sich nur selten beschwert, wenn er nach mir langte und meine Seite des Betts leer war«, erkläre ich. »Er akzeptierte mein Bedürfnis, allein zu sein, zumindest schien er es zu akzeptieren. Ich wusste nicht, wie sehr ihn meine nächtlichen Gewohnheiten verletzten, bis zu jener Nacht, als er in mein Arbeitszimmer kam.«
»Waren es wirklich nur deine nächtlichen Gewohnheiten?«, fragt Anna. »Oder war es deine Distanziertheit?« »Ich halte mich nicht für distanziert.«
»Hältst du dich für jemanden, der sich auf andere wirklich einlässt?«
Ich analysiere, suche überall in mir nach einer Wahrheit, vor der ich mich fürchte.
»Hast du dich auf Benton eingelassen?«, fährt Anna fort. »Fangen wir mit ihm an. Er war deine wichtigste Beziehung. Jedenfalls war er die längste.«
»Habe ich mich auf ihn eingelassen?« Ich halte die Frage hoch wie einen Tennisball, den ich gleich schlagen werde, aber ich bin mir noch unsicher über den Winkel, den Effet und die Kraft, die ich anwenden soll. »Ja und nein. Benton war einer der besten, freundlichsten Männer, die ich je gekannt habe. Sensibel. Tiefgründig und intelligent. Ich konnte mit ihm über alles reden.«
»Aber hast du es auch getan? Ich habe den Eindruck, dass das nicht der Fall war.« Anna lässt natürlich nicht locker. Ich seufze. »Ich weiß nicht, ob ich jemals mit irgendjemandem über irgendetwas geredet habe.«
»Vielleicht stellte Benton keine Gefahr dar«, meint sie. »Vielleicht«, erwidere ich. »Ich weiß, dass es Stellen in mir gibt, an die er nie herankam. Ich wollte es auch nicht, ich wollte kein so intensives, nahes Verhältnis. Vielleicht erklärt der Anfang unserer Beziehung einiges. Er war verheiratet. Er ging imme r nach Hause zu seiner Frau, Connie. Über Jahre ging das so. Wir standen auf zwei Seiten einer Mauer, getrennt, berührten uns nur heimlich. Gott, darauf würde ich mich nie wieder einlassen, mit niemandem.«
»Schuldgefühle?«
»Natürlich«, sage ich. »Jeder gute Katholik hat Schuldgefühle. Am Anfang fühlte ich mich schrecklich schuldig. Ich war noch nie der Typ, dem es Spaß macht, Regeln zu brechen. Ich bin nicht wie Lucy, oder vielleicht sollte ich besser sagen, sie ist nicht wie ich. Wenn Regeln geistlos und dumm sind, bricht sie sie ständig. Himmel, Anna, ich krieg noch nicht mal Strafzettel wegen Geschwindigkeitsüberschreitung.«
Sie beugt sich vor und hält eine Hand hoch. Das ist ihr Zeichen. Ich habe etwas Wichtiges gesagt. »Regeln«, sagt sie. »Was sind Regeln?«
»Du meinst eine Definition? Willst du eine Definition von Regeln?«
»Was sind Regeln für dich? Deine Definition, ja.«
»Richtig und falsch«, sage ich. »Was ist erlaubt, was ist verboten. Moralisch versus unmoralisch. Menschlich versus unmenschlich.«
»Mit einer verheirateten Person zu schlafen ist unmoralisch, falsch, unmenschlich?«
»Wenn sonst schon nichts, dann ist es dumm. Ja, es ist falsch. Kein tödlicher Fehler und keine unverzeihliche Sünde oder verboten, aber unaufrichtig. Ja, eindeutig unaufrichtig. Ein Bruch der Regel, ja.«
»Dann gibst du also zu, dass du fähig bist, unaufrichtig zu sein.«
»Ich gebe zu, dass ich fähig bin, eine Dummheit zu begehen.«
»Aber unaufrichtig?« Sie lässt mich nicht ausweichen. »Alle sind zu allem fähig. Meine Affäre mit Benton war unaufrichtig.
Ich habe indirekt gelogen, weil ich verbarg, was ich tat. Ich habe anderen, darunter Connie, eine falsche Fassade präsentiert. Sie war schlichtweg falsch. Bin ich also fähig, andere zu täuschen, zu belügen? Natürlich bin ich das.« Dieses Eingeständnis deprimiert mich zutiefst.
»Was ist mit Mord? Wie lautet die Regel für Mord? Falsch? Unmoralisch? Ist es immer falsch, zu töten? Du hast getötet«, sagt Anna. »In Notwehr.« In dieser Hinsicht fühle ich mich stark und sicher. »Nur als ich keine andere Wahl hatte, weil die Person entweder mich oder jemand anders umgebracht hätte.«
»Hast du eine Sünde begangen? Du sollst nicht töten.«
»Nein, auf keinen Fall.« Jetzt werde ich frustriert. »Es ist einfach zu urteilen, wenn man die Dinge vom moralischen und idealistischen Standpunkt aus
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