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Das letzte Revier

Das letzte Revier

Titel: Das letzte Revier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Cornwell
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Sie unnötig gestört haben.«
    »Es will also niemand mit mir sprechen? Es gibt keine Probleme?« Ich bin verblüfft. Ich kenne Greenwood seit Jahren, und er tut so, als wären wir uns noch nie begegnet.
    »Es war ein Irrtum«, sagt er nochmals in demselben kühlen Tonfall. »Ich möchte mich noch einmal entschuldigen. Einen schönen Tag noch.«

9
     
    Die nächsten Stunden verbringe ich an meinem Schreibtisch, diktiere den Autopsiebericht von John Doe, erledige Telefonanrufe und Papierkram. Am späten Nachmittag verlasse ich das Büro und fahre Richtung Westen.
    Sonnenlicht bricht hin und wieder durch die Wolken, und Windböen lassen braune Blätter zur Erde flattern wie träge Vögel. Es hat aufgehört zu schneien, und die Temperatur steigt, die nasse Welt tropft und zischt im Lärm des Verkehrs. Ich fahre Annas silbernen Lincoln Navigator zur Three Chopt Road, während die Nachrichten im Radio endlos über Jean-Baptiste Chandonnes Transport aus der Stadt berichten. Es ist viel von seinen verbundenen Augen die Rede und den Verätzungen. Die Geschichte, wie ich ihn zum Krüppel machte, um mein Leben zu retten, bekommt eine eigene Dynamik. Die Journalisten haben einen Aufhänger gefunden. Die Gerechtigkeit ist blind. Dr. Scarpetta hat die klassische körperliche Bestrafung exerziert. »Jemanden blenden, stellen sie sich das vor«, sagt ein Moderator. »Wie heißt noch der Kerl bei Shakespeare, dem sie die Augen ausgestochen haben. König Lear? Haben Sie den Film gesehen? Der alte König musste sich rohe Eier oder so in die Augenhöhlen tun, damit es nicht so wehtat. Wirklich ekelhaft.«
    Den Bürgersteig zu St. Bridget's brauner Eingangspforte bedeckt eine Mischung aus Schneematsch und Salz, und es stehen höchstens zwanzig Wagen auf dem Parkplatz. Es ist, wie Marino vorhergesagt hat: kein Aufgebot von Polizisten, keine Medienvertreter. Vielleicht hat das Wetter die Massen von der alten neogotischen Klinkerkirche fern gehalten, aber wahrscheinlicher ist, dass die Tote selbst dafür verantwortlich ist. Ich zum Beispiel bin nicht hier aus Respekt oder Sympathi e oder gar einem Gefühl des Verlusts. Ich knöpfe meinen Mantel auf und betrete die Vorhalle, während ich versuche, der unangenehmen Wahrheit auszuweichen: Ich konnte Diane Bray nicht ausstehen und bin nur aus Pflicht hier. Sie war Polizistin. Ich kannte sie. Sie war mein Fall.
    Auf einem Tisch in der Vorhalle steht ein großes Foto von ihr, und ich erschrecke beim Anblick ihrer hochmütigen, in sich selbst versunkenen Schönheit, des eisigen grausamen Funkelns in ihren Augen, das keine Kamera kaschieren konnte, gleichgültig aus welchem Winkel, in welchem Licht sie aufgenommen wurde und wie geschickt der Fotograf auch war. Diane Bray hasste mich aus Gründen, die ich immer noch nicht ganz verstehe. Sie war besessen von mir und meiner Macht und so völlig fixiert auf jeden Aspekt meines Lebens, wie ich selbst es nie war. Vermutlich sehe ich mich nicht so, wie sie mich sah, und es kostete mich eine Weile, bis ich begriff, dass sie mich attackierte und einen unglaublich erbitterten Krieg gegen mich führte, der darin gipfelte, dass sie Ministerin im Staat Virginia werden wollte.
    Bray hatte alles genau durchdacht. Erst wollte sie dafür sorgen, dass die Gerichtsmedizin nicht länger dem Gesundheitsministerium unterstellt wäre, sondern dem Ministerium für Öffentliche Sicherheit, und wenn alles nach Plan verlief, sollte der Gouverneur sie anschließend zur Ministerin für Öffentliche Sicherheit ernennen. Dann wäre ich ihr rechenschaftspflichtig gewesen, und sie hätte das Vergnügen gehabt, mich zu feuern. Warum? Ich suche weiterhin nach einleuchtenden Motiven, und es gelingt mir nicht, ein wirklich zufrieden stellendes zu finden. Ich hatte nie von ihr gehört, bevor sie letztes Jahr zur Polizei von Richmond kam. Aber sie wusste definitiv von mir und zog in meine schöne Stadt, mit Plänen und Intrigen im Kopf, die darauf abzielten, mich langsam und sadistisch fertig zu machen, durch eine Reihe schockierender Zwischenfälle, durch Verleumdungen , berufliche Schikanen und Demütigungen, bevor sie meine Karriere und mein Leben endgültig ruinieren wollte. Der Höhepunkt ihrer kaltblütigen Machenschaften bestand in ihrer Fantasie wohl darin, dass ich unehrenhaft entlassen, Selbstmord begehen und in einem Abschiedsbrief ihr die Schuld zuweisen würde. Stattdessen bin ich noch da. Sie ist tot. Dass ich ihre aufs Grausamste misshandelten Überreste untersuchte,

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