Das letzte Revier
Paris. Ein Teil meiner Familie ist dort beerdigt. Mit concession äperpetuite«, sagt er stolz. »Ein dummer Mann. Ein Amerikaner. Es war eine große Brieftasche, in der die Leute ihren Pass und ihr Flugticket aufbewahren. Das habe ich oft gemacht, muss ich Ihnen leider gestehen. Das gehört zum Leben auf der Straße, und ich lebe mehr und mehr auf der Straße, seit sie hinter mir her sind.«
»Wieder die gleichen Leute. Regierungsagenten.«
»Ja, ja. Agenten, Richter, alle. Ich nahm sofort das Flugzeug, weil ich dem Mann nicht die Zeit geben wollte, den Diebstahl anzuzeigen. Damit mich am Flughafen niemand aufhielt. Es war ein Rückflugticket, Business-Class, nach New York.«
»Sie flogen wann von welchem Flughafen ab?« »De Gaulle. Das war letzten Donnerstag.« »Der sechzehnte Dezember?«
»Ja. Ich kam am Morgen an und fuhr mit dem Zug nach Richmond. Ich hatte siebenhundert Dollar, die ich dem Mann gestohlen hatte.«
»Haben Sie die Brieftasche und den Pass noch?«
»Nein. Das wäre dumm gewesen. Ich habe sie weggeworfen.«
»Wo?«
»Im Bahnhof von New York. Wo genau kann ich Ihnen nicht sagen. Ich bin in den Zug gestiegen -«
»Und niemand hat Sie während dieser Reise angesehen? Sie waren nicht rasiert, Sir? Niemand hat Sie angestarrt oder sonst irgendwie auf Sie reagiert?«
»ich hatte mein Haar in einem Netz unter einem Hut. Ich hatte lange Ärmel und einen hohen Kragen.« Er zögert. »Und ich tue noch etwas, wenn ich so aussehe, wenn ich mich nicht rasiert habe. Ich trage einen Gesichtsschutz über Mund und Nase wie die Leute, die eine schwere Allergie haben. Und schwarze Baumwollhandschuhe und eine große getönte Brille.«
»Das alles trugen Sie im Flugzeug und im Zug?«
»Ja. Es funktioniert sehr gut. Die Leute meiden mich, und in diesem Fall hatte ich eine ganze Sitzreihe für mich. Ich schlief.«
»Haben Sie den Gesichtsschutz, den Hut, die Handschuhe und die Brille noch?«
Er denkt kurz nach, bevor er antwortet. Sie hat ihm einen angeschnittenen Ball zugeworfen, und er ist unsicher. »Ich kann sie vielleicht finden«, geht er auf Nummer sicher. »Was taten Sie, nachdem Sie in Richmond angekommen waren?«, fragt Berger.
»Ich bin aus dem Zug gestiegen.«
Sie stellt ihm mehrere Minuten lang Fragen dazu. Wo ist der Bahnhof? Hat er von dort ein Taxi genommen? Wie hat er sich in der Stadt bewegt? Was genau wollte er wegen seines Bruders unternehmen? Seine Antworten sind einleuchtend. Alles, was er sagt, lässt es plausibel erscheinen, dass er war, wo er behauptet, gewesen zu sein, wie zum Beispiel im Bahnhof in der Staples Mill Road, von wo er mit einem blauen Taxi zu einem billigen Motel in der Chamberlayne Avenue fuhr. Dort nahm er ein Zimmer für zwanzig Dollar die Nacht, trug sich unter falschem Namen ein und bezahlte bar. Von dort, so sagt er, rief er in der Gerichtsmedizin an, um Informationen über die nicht identifizierte Leiche zu bekommen, die angeblich sein Bruder ist. »Ich bat darum, mit dem Arzt zu sprechen, aber niemand wollte mir weiterhelfen«, erklärt er Berger.
»Mit wem haben Sie gesprochen?«, fragt sie ihn. »Es war eine Frau. Vielleicht eine Sekretärin.«
»Hat die Sekretärin Ihnen gesagt, wer der Arzt ist?«
»Ja. Ein Dr. Scarpetta. Dann bat ich darum, mit Dr. Scarpetta verbunden zu werden, und die Sekretärin erklärt mir, dass Dr. Scarpetta eine Frau ist. Ich sage, okay. Kann ich mit ihr sprechen? Aber sie hat zu tun. Ich hinterlasse natürlich weder meinen Namen noch meine Telefonnummer, weil ich weiterhin vorsichtig sein muss. Vielleicht werde ich wieder verfolgt. Woher soll ich das wissen? Und dann finde ich eine Zeitung und lese von einem Mord, von einer Frau, die eine Woche zuvor hier in einem Laden ermordet wurde, und ich erschrecke - kriege es mit der Angst. Sie sind hier.«
»Wieder die Gleichen? Die, von denen Sie behaupten, dass sie hinter Ihnen her sind?«
»Sie sind hier, verstehen Sie denn nicht? Sie haben meinen Bruder umgebracht und wussten, dass ich deswegen kommen würde.«
»Die sind wirklich erstaunlich, nicht wahr, Sir? Diese Leut e wussten, dass Sie bis nach Richmond, Virginia, reisen würden, nur weil Sie in Paris in einer weggeworfenen USA Today gelesen haben, dass hier eine Leiche gefunden wurde. Und diese Leute wussten auch, dass Sie annehmen würden, es handele sich um Thomas, und dass Sie einen Pass und eine Brieftasche stehlen und hierher kommen würden.«
»Sie wussten, dass ich kommen würde. Ich liebe meinen Bruder. Mein
Weitere Kostenlose Bücher