Das letzte Riff
öffentlichen Hinrichtung. Sir Paul Sillitoe war verschwunden.
Herrick sah müde und abgespannt aus. Er machte sich wohl seine Gedanken über den nächsten Tag.
Der Ankläger räusperte sich und wartete auf ein kurzes Nicken von Hamett-Parker.
»Das Gericht ist vollzählig versammelt. Lassen Sie Kapitän Hector Gossage rufen!« Er blickte in die gespannten Gesichter. »Er war beim Angriff Flaggkapitän des Angeklagten.«
Herrick starrte seinen Degen auf dem Richtertisch an, als erwarte er, daß er sich bewege, seine Spitze ihm zudrehe. Gossages Auftritt war erschütternd. Der kräftige, kompetente Kommandant, den Bolitho von früher kannte, war zusammengeschrumpft. Tiefe Falten furchten sein Gesicht, und eine Wange war zerrissen von Narben und Splittern. Ein Uniformärmel war leer nach oben gesteckt.
Noch immer schien Gossage unter großen Schmerzen zu leiden. Man brachte einen Stuhl, und zwei Ordonnanzen, die ihn vom Marinehospital Haslar Creek hierher gebracht hatten, halfen ihm, Platz zu nehmen.
Nicht unfreundlich fragte Hamett-Parker: »Sitzen Sie so bequem, wie es hier möglich ist, Kapitän Gossage?«
Gossage schaute sich um, als habe er nicht recht verstanden.
So viele hochrangige Offiziere und Gäste … »Ich sollte stehen, Sir.«
Leise sagte Hamett-Parker: »Sie sind hier nicht angeklagt, Kapitän Gossage. Lassen Sie sich Zeit und berichten Sie mit Ihren eigenen Worten. Wir kennen die meisten Beweise und haben bisher die Meinungen von Zeugen gehört, mehr nicht. Aber
Benbow
war das Flaggschiff, und Sie waren der Kommandant.«
Erst da blickte Gossage endlich Herrick an. Mit gebrochener Stimme sagte er: »Ich bin kein Kommandant mehr. Ich habe alles verloren!« Er versuchte, sich so zu drehen, daß Herrick seinen leeren Ärmel sehen konnte. Schau’ her, was du mir angetan hast, hieß das.
Hamett-Parker änderte seine Meinung und winkte dem Arzt. »Die Sitzung ist vertagt. Morgen früh beginnen wir zur gleichen Stunde wie heute.« Und dann leiser, an den Arzt gewandt: »Kümmern Sie sich um Kapitän Gossage.«
Als das Gericht sich im Hintergrund der Kajüte sammelte, hörte Bolitho Hamett-Parker ernst zum Ankläger sagen: »So etwas darf nicht noch mal passieren, Mr. Cotgrave!« Aber dann schaute er sich um, und Bolitho entdeckte Triumph in seinen Augen.
Heimliche Rache
Das mittelgroße Haus, das der Admiralität gehörte, lag eben außerhalb des Werftgeländes. Zwar gab es hier eine ständige Dienerschaft, aber das Gebäude selbst hatte keinerlei Charakter. In diesem Haus konnten hochrangige Offiziere oder Beamte der Admiralität so lange wohnen, wie es ihr Anliegen beim Hafenadmiral oder bei den Werftoberen verlangte.
Noch war es nicht hell, und doch vernahm Bolitho schon das Rattern von Wagen und Karren unten. In der langen Nacht hatte er gelegentlich Schritte und Waffengeklirr von Preßgangs gehört, die wieder mal das Umland nach Männern durchsuchten, die keinen Schutzbrief hatten.
Als er das letzte Mal aus einem unruhigen Schlaf hochgefahren war, hatte ihn die schrille, bittende Stimme einer Frau geweckt. Ihre Worte hatte er nicht verstanden, aber sie hatte noch gerufen und geheult, als die Tore sich schon lange hinter ihrem Mann geschlossen hatten. Man hatte ihn wohl nachts von ihrer Seite geholt für eine Flotte, deren Besatzungen durch den langen Krieg ausgedünnt waren. Jeder gesunde Mann wurde gebraucht. Selbst Männer mit einem Schutzbrief, wie Fischer oder Matrosen der East India Company, hielten sich nachts versteckt, wenn die Preßgangs unterwegs waren. Man hatte nicht viele Chancen, wieder an Land zu entkommen, wenn man mit blutigem Schädel an Bord eines Kriegsschiffs erwachte, das bereits unterwegs in den offenen Atlantik war.
Zart hob Bolitho Catherines Kopf von seiner nackten Schulter und ließ ihn auf das Kissen gleiten. Er spürte, wie ihr langes Haar seine Haut streichelte, die immer noch warm war von ihrer Umarmung.
Keine Nacht voll Leidenschaft und Wildheit lag hinter ihnen; sie hatten beide gespürt, daß sie einander sehr viel tiefer brauchten. Vorsichtig verließ er das Bett und ging in das Zimmer nebenan. Der Kamin war erloschen, aber er konnte einen Diener hören, vielleicht sogar Ozzard, der im Erdgeschoß ein neues Feuer entzündete.
Alle Räume hier fühlten sich fremd und feucht an, aber es war immer noch angenehmer als in einem Gasthaus mit neugierigen Blicken und scharfen Ohren. Alle Welt sprach über das Kriegsgericht. Portsmouth war Kriegshafen, der
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