Das Letzte Ritual
Schlusspunkt des Zeitrahmens so, dass über zwanzig Stunden seit dem Tod vergangen sein mussten.«
»Das ist ja alles sehr interessant, keine Frage«, sagte Matthias. »Andererseits wüsste ich gern, wann Harald höchstwahrscheinlich starb und wie man das herausfand.« Er schaute Dóra dabei nicht an.
»Ja, natürlich, entschuldigen Sie«, sagte der Arzt. »Die Todesstarre deutete darauf hin, dass der Tod mindestens 24 Stunden bevor die Leiche gefunden wurde, eingetreten war, was den Zeitrahmen noch weiter eingegrenzt hat.« Der Arzt blickte abwechselnd von Dóra zu Matthias. »Möchten Sie, dass ich die Todesstarre noch etwas ausführlicher erkläre? Ich kann das kurz zusammenfassen, wenn Sie wollen.«
»Ja, bitte«, antwortete Dóra, während Matthias gleichzeitig sagte: »Nein, danke, nicht nötig.«
»Richten wir uns höflichkeitshalber nach der Dame«, entgegnete der Arzt und schenkte Dóra ein Lächeln. Sie erwiderte es mit größtmöglichem Charme. Matthias warf ihr einen schrägen Blick zu, ziemlich sauer, wie es Dóra schien. Sie ließ sich davon nicht beirren.
»Also«, begann der Arzt, »die Totenstarre beginnt in den Muskeln, die am meisten betätigt werden, und geht dann auf alle Muskeln über. Wenn sie ihren Höhepunkt erreicht hat, ist der Körper steif. Er verharrt in der Position, die er innehat, wenn die Starre auf den gesamten Körper übergeht. Dieser Zustand hält jedoch nicht lange an, denn die Totenstarre geht vorüber und der Körper entspannt sich vollkommen. Unter normalen Umständen erreicht die Starre zwölf Stunden nach dem Tod ihren Höhepunkt und beginnt dann 36 bis 48 Stunden später abzuebben. Bei Fällen wie diesem, wo die Todesursache Ersticken ist, dauert es allerdings etwas länger.« Der Arzt blätterte in den Papieren, zog ein Foto hervor und reichte es ihnen. »Wie Sie sehen, war Haralds Leiche vollkommen steif, als sie gefunden wurde.«
Matthias griff als Erster nach dem DINA4 großen Foto. Er schaute Dóra ausdruckslos an und reichte es ihr. »Es ist ziemlich abstoßend«, sagte er, als sie das Bild entgegennahm.
Abstoßend beschrieb nicht annähernd, was Dóra vor Augen hatte. Das Foto zeigte Harald Guntlieb in einer merkwürdigen Stellung, die Dóra schon von den Fotos aus der Mappe mit den Ermittlungsunterlagen kannte, auf dem Fußboden. Die anderen Fotos waren allerdings so unscharf und schlecht kopiert gewesen, dass man sie im Vergleich mit dem, was sie jetzt sah, fast in der Kinderstunde zeigen könnte. Haralds Arm richtete sich vom Ellbogen aus gerade nach oben, so als wolle er auf etwas an der Decke zeigen. Es gab nichts, was den Ellbogen in dieser Position hielt oder stützte. Trotzdem war Harald Guntlieb definitiv tot. Sein Gesicht war dick und geschwollen und hatte eine seltsame Farbe. Was Dóra jedoch am meisten zu schaffen machte, waren die Augen, oder besser gesagt die Augenhöhlen. Sie gab Matthias das Foto schnell zurück.
»Wie Sie sehen, lehnte die Leiche vermutlich an etwas, wahrscheinlich an einer Wand, und der Arm versteifte sich in dieser Stellung. Sie wissen bestimmt, dass der Mord nicht in diesem Flur stattfand. Die Leiche fiel aus einer kleinen Kammer, als ein Lehrer am Montagmorgen deren Tür öffnete. Aus der Beschreibung des Mannes lässt sich schließen, dass die Leiche dort hineingebracht worden war. Entweder ist sie gegen die Tür gefallen oder so positioniert worden, dass sie herausfallen musste, sobald jemand die Tür öffnete. Wie auf dem Foto zu sehen ist, öffnet sich die Tür zum Gang hin.«
Matthias betrachtete das Foto und nickte schweigend. Dóra hatte genug; sie wollte sich dieses Foto nicht noch einmal anschauen. »Aber Sie haben uns noch nicht mitgeteilt, wann er aller Voraussicht nach gestorben ist«, sagte Matthias und gab dem Arzt das Foto zurück.
»Ja, entschuldigen Sie«, erwiderte der Arzt und blätterte in der Akte. Als er die richtige Seite gefunden hatte, richtete er sich in seinem Stuhl auf. »In Anbetracht des Mageninhalts und des Amphetamingehalts im Blut liegt die angenommene Todeszeit zwischen eins und halb zwei. Der Zeitpunkt der Einnahme von Nahrung und Amphetaminen ist bekannt. Harald hat gegen neun Uhr an jenem Abend Pizza gegessen. Kurz bevor er um halb zwölf die Party verließ, schnupfte er Amphetamine durch die Nase.«
Der Arzt reichte Matthias ein anderes Foto aus dem Stapel. »Die Verdauung von Pizza ist verhältnismäßig gut bekannt und dokumentiert.«
Matthias betrachtete das Foto, ohne mit der
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