Das letzte Sakrament
Chromosomen, das Opossum über 18 und der Mensch über 46. Der Schimpanse hat indes 48, eine Weinbergschnecke 54, und die Süßkirsche nennt je nach Gattung bis zu 144 Chromosomen ihr Eigen. Nicht die Zahl der Chromosomen ist entscheidend, sondern was man damit macht. SEQUENZA 46.
»Solange sie dem Menschen nicht ein paar zusätzliche Chromosome verpassen, finde ich es nicht so beängstigend«, entgegnete Pandera.
»Das klingt aber ganz danach«, sagte sie beinahe trotzig.
Bevor Pandera etwas antworten konnte, kam Plattner zurück. Seine Augen waren gerötet.
Wortlos führte er die Kommissare in sein Büro.
Der Raum war nur klein. Regale, die bis zum Bersten mit Büchern vollgestopft waren, zogen sich an den Wänden entlang, durch die Fensterfront fiel fahles Morgenlicht. Pandera und Aerni setzten sich auf zwei Besucherstühle aus Metallgitter. Kalt und unbequem , dachte Pandera.
»Seit wann hat Roland Obrist für Sie gearbeitet?«, fragte Pandera.
»Er war seit gut drei Jahren hier«, antwortete der Laborleiter. »Wir kannten ihn von einem Projekt, bei dem wir zusammengearbeitet haben. Er war ein sehr zuverlässiger Mitarbeiter.«
»War er alleinstehend?«
»Das nehme ich an.« Plattner fuhr sich über seine Stoppelhaare. »Roland hat oft am Wochenende im Labor gearbeitet.«
»Das heißt, es war nicht ungewöhnlich, dass er in der Nacht von Samstag auf Sonntag hier war?«, fragte Tamara Aerni. »Immerhin war erster August.«
»Er … er hat sich nicht viel aus dem Nationalfeiertag gemacht«, antwortete Plattner. »Er hat gerne alleine gearbeitet und konnte kommen und gehen, wann er wollte.«
»Hatte er Feinde?«, fragte Tamara Aerni.
Plattner zögerte. Nur wenige Augenblicke, doch Pandera entging es nicht.
»Das glaube ich nicht«, sagte Plattner. »Die Kollegen hatten Respekt vor ihm …« Er ließ den Satz in der Schwebe.
»Aber?«, fragte Pandera.
»Sie kennen die Vorgeschichte von Roland Obrist nicht, oder?«, fragte Plattner.
Pandera schüttelte den Kopf.
»Ich verstehe.« Plattner nickte. »Nun, Sie müssen wissen, Roland Obrist hat viele Jahre als Mönch gelebt.« Er zuckte mit den Schultern, als könne er das nicht verstehen. »Erst kurz bevor er bei uns anfing, hat er den Orden verlassen. Er war immer noch … sehr … sehr gläubig. Er hatte in manchen Dingen seine eigenen Ansichten, und nicht alle Mitarbeiter haben die geteilt.«
»Wer zum Beispiel?«, fragte Pandera.
»So genau weiß ich das nicht«, antwortete Plattner.
»Hatte er mit Mitarbeitern Streit?«
»Nein … nein, wirklich nicht«, sagte Plattner schnell. »Aber mit einem Wissenschaftler kann man wohl kaum über die Heilige Dreifaltigkeit diskutieren.«
»Was wissen Sie über Obrists Privatleben?«, fragte Tamara Aerni. Warum wechselt sie das Thema? , fragte sich Pandera. Viel zu früh .
»Nicht viel. Er hat nie darüber gesprochen«, antwortete Plattner.
Pandera trank einen Schluck Wasser. Ein ehemaliger Mönch in einem Gentechnik-Labor, das passte überhaupt nicht zusammen. »Wissen Sie, weshalb er den Orden verlassen hat?«
Plattner holte eine Dose Schnupftabak aus der Hosentasche und nahm eine Prise. »Die Wissenschaft hat ihn immer fasziniert«, begann er. »Aber sein Orden ließ eine tiefer gehende Beschäftigung damit nicht zu. Roland Obrist war überzeugt davon, dass Gott uns die Wissenschaft gegeben hat, um die Welt zu ergründen. Das konnte die Ordensleitung natürlich nicht tolerieren.«
»Er ist also nicht im Frieden gegangen?«, fragte Pandera.
Der Doktor kratzte sich an der Stirn. »Wissen Sie … die Kirche verliert ungern eines ihrer Schäfchen.«
»Aber er war doch nach wie vor gläubig, oder?«
»Das war er.« Plattner nickte.
»Was untersuchen Sie hier eigentlich?«, fragte Tamara Aerni.
Schon wieder wechselt sie einfach das Thema, dachte Pandera. Das scheint ihr Markenzeichen zu sein.
»Wir analysieren Blutproben, detektieren genetische Defekte, führen radiologische Altersbestimmungen durch oder begleiten forensische Untersuchungen.« Es klang, als habe Plattner seinen eigenen Werbeprospekt vorgelesen.
»Das heißt, Sie entscheiden zum Beispiel darüber, ob jemand in einem Gerichtsprozess schuldig ist oder nicht?«, fragte sie.
»Wir unterstützen forensische Gutachter bei ihrer Arbeit«, antwortete Plattner reserviert.
»Kann es sein, dass jemand diese Proben stehlen wollte?«, fragte Pandera.
»Wir bekommen niemals die komplette Probe, das wäre viel zu riskant. Also würde der
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