Das letzte Theorem
eintausendachthundert Stühle aus Leichtmetall klebten an den Wänden der Röhre, und fast jeder Platz war besetzt. Die Subramanians hatten das Glück, dass sie Sitze ergattert hatten, die weniger als einhundert Meter von der Ziellinie entfernt waren.
Als sie sich zu ihren Plätzen begaben, fühlte sich Ranjit so wohl wie selten zuvor in seinem Leben. Die vierzehn Stunden Schlaf hatten ihn erfrischt, desgleichen die Dusche mit richtigem, wenngleich aufbereitetem Wasser. Allerdings hatten sich die Brauseköpfe bereits nach dreißig Sekunden selbsttätig abgeschaltet, doch eine halbe Minute reichte völlig aus, um nass zu werden. Das leckere Frühstück markierte den Beginn eines schönen Tages, dann folgte ein kurzer Rundgang. Ranjit hatte gestaunt, als er feststellte, dass die Wohnquartiere sich nicht in der riesigen Lavaröhre befanden, in der das Sportstadion lag, sondern in einem kleineren Tunnel in der Nähe, der durch eine künstlich angelegte Unterführung mit der Hauptröhre verbunden war.
Noch konnte er es kaum fassen, dass er sich tatsächlich auf dem Mond aufhielt. Die ganze Situation hatte etwas Surrealistisches an sich. Und bei ihm war seine über alles geliebte Familie - seine Frau, sein Sohn und seine Tochter, die heute vielleicht den glücklichsten Tag ihres Lebens erlebte.
Die künstlich erzeugte Atmosphäre in den Röhren besaß nur etwa die Hälfte des Drucks, wie er auf der Erde auf Meeresniveau herrscht, doch die Luft war beträchtlich mit Sauerstoff angereichert. Für Natashas Gegner, den Ballonauten, war das wichtiger als für sie selbst, denn obwohl die Schwerkraft auf dem Mond nur ein Sechstel der irdischen Gravitation beträgt, benötigte er immer noch mindestens dreißig Kubikmeter Wasserstoff, um sich in der Luft zu halten. Piper Dugan, so hieß ihr Rivale bei dem Rennen, kam aus Australien. Als er in
die Arena einzog, zusammen mit drei Assistenten, die die Taue hielten, damit seine Maschine nicht vom Boden abhob, schwebte über seinem Kopf ein stromlinienförmiger Wasserstoffzeppelin.
Während seines Einmarsches ertönte eine Melodie; Ranjit warf einen Blick in sein Programmheft und las, dass es sich um die australische Nationalhymne handelte. Kaum waren die ersten Takte von »Advance Australia Fair« zu hören, fing der größte Teil der Zuschauer, die an der gegenüberliegenden Wand der Röhre saßen, an zu toben. »Oh oh«, wisperte Myra ihrem Mann ins Ohr. »Ich glaube nicht, dass genug Sri Lanker hier sind, um Tashy denselben Salut zu bereiten.«
Natürlich war Sri Lanka zahlenmäßig nicht so stark vertreten, aber es gab viele Zuschauer aus Indien, das ja gleich nebenan lag, und eine Menge Leute schenkten ihre Sympathie und Unterstützung einfach einem jungen Mädchen, das von einer winzigen Insel stammte. Als sie einmarschierte, um ihren Platz einzunehmen, wurde sie nur von einem einzigen Assistenten begleitet. Er trug etwas, das aussah wie ein Fahrrad, das anstelle von Rädern mit hauchdünnen, beinahe gazeähnlichen Schwingen ausgestattet war.
Auch für sie spielte Musik - und wenn es sich dabei um die Nationalhymne Sri Lankas handelte, so hörte Ranjit sie zum ersten Mal, er hatte gar nicht gewusst, dass sein Land eine hatte -, doch sie ging beinahe unter in dem begeisterten Gebrüll der Zuschauer auf ihrer Seite der Röhre. Der Lärm toste weiter, während die Helfer die beiden Wettkampfteilnehmer an ihren Geräten befestigten. Piper Dugan hing an seinem Wasserstoffzeppelin und hatte die Hände und Füße frei, um die Kurbeln für den Antrieb zu betätigen; Natasha saß auf dem Sattel ihres Sky-Bikes, vornübergebeugt in einem Winkel von fünfundvierzig Grad.
Die Musik verstummte. Die Rufe und das Johlen der Zuschauer ebbten allmählich ab. Einen Moment lang trat fast Stille ein … und dann hörte man den scharfen Knall der Startpistole.
Als Erstes sauste Dugans Luftschiff nach vorn, während Natashas Sky-Bike ein halbes Dutzend Meter tiefer sank, ehe sie Tempo zulegen konnte.
Danach holte sie langsam, aber sicher auf.
Es wurde ein Kopf-an-Kopf-Rennen, fast bis zum Schluss, wobei das Publikum beide Teilnehmer lautstark anfeuerte. Und nicht nur die wenigen Zuschauer auf dem Mond fieberten mit, sondern auch mehrere Hundert Millionen Menschen auf der Erde, die den Wettkampf am Fernsehschirm verfolgten.
Zwanzig Meter vor der Ziellinie überholte Natasha ihren Rivalen. Mit einem großen Vorsprung schoss sie über die Linie hinweg, und der Tumult, der dann unter den
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