Das letzte Theorem
vorbei mit der Unterhaltung.«
Ranjit wollte gern etwas darauf erwidern, aber ihm fiel nichts Passendes ein. Auf jeden Fall fehlten ihm die Worte. Am liebsten hätte er seinen Arm um Myra gelegt, aber noch traute er sich nicht. Dann wagte er so etwas wie einen ersten Schritt und griff nach ihrer Hand, die auf der Armstütze ihres Stuhles ruhte.
Sie schien nichts dagegen zu haben. »Als ich heranwuchs, standen die Ruinen der Hotelzimmer noch da«, fuhr sie fort. »Soll ich dir verraten, wer sie dann letzten Endes weggeräumt hat? Der Tsunami. Ohne diese Katastrophe würden sie diesen Strandabschnitt vermutlich immer noch verschandeln.«
Lächelnd wandte sie sich ihm zu … und sah aus, als wünschte sie sich, von ihm geküsst zu werden.
Er machte die Probe aufs Exempel.
Wie er sehr schnell merkte, hatte er sich nicht verkalkuliert. Sie hatte den Kuss herbeigesehnt. Und sie war diejenige, die ihn bei der Hand nahm und ihn in das Strandhaus zurückführte, direkt zu der Couch, die nur auf sie beide zu warten schien. Und Ranjit erkannte, dass Sex mit einer Frau nicht nur grundsätzlich etwas Erfreuliches war, sondern noch tausendmal besser, wenn man diese Frau wirklich gern hatte, sie respektierte und sich nichts Schöneres vorstellen konnte, als seine gesamte Zeit mit ihr zu verbringen.
Das Dinner, zu dem er sie eingeladen hatte, wurde auch ein großer Erfolg. Der ganze Ausflug war herrlich, von Anfang bis Ende, und sie planten, ihn zu wiederholen. So oft wie nur irgend möglich.
Allerdings lief es dann doch nicht so, wie sie es sich vorgestellt hatten, denn bereits am nächsten Tag passierte etwas, das ihre Pläne durchkreuzte.
An diesem Tag kam Ada Labrooy sie besuchen, zusammen mit ihrer Nanny, die Myra und Ranjit unentwegt scheel ansah, so
dass er zu der Überzeugung gelangte, was er und Myra getrieben hätten, stünde ihnen ins Gesicht geschrieben. Ansonsten war es ein völlig normaler Tag - bis auf die Tatsache, dass Myra ihn bei seiner Ankunft auf die Lippen geküsst hatte, anstatt wie sonst auf die Wange. Das Unerwartete trat ein, nachdem sie vom Schwimmen zurückkamen, sich umzogen und sich mit Drinks auf die Veranda setzten.
Ada war die Erste, die etwas bemerkte. Mit der Hand ihre Augen vor dem grellen Sonnenlicht beschirmend, spähte sie aufmerksam in eine bestimmte Richtung und fragte: »Ist das nicht der Mann, der im Haus von Tante Bea arbeitet?«
Ranjit stand auf, um besser sehen zu können. Ja, richtig, jetzt erkannte auch er den Butler der Vorhulsts. So schnell hatte Ranjit ihn noch nie rennen sehen, und mit einer Hand umklammerte er ein Bündel Papiere. Er schien sehr aufgeregt zu sein. Nicht nur aufgeregt, sondern geradezu begierig, Ranjit die Papiere zu überreichen, denn er war noch fünf, sechs Meter entfernt, als er rief: »Sir! Ich glaube, die Nachricht, auf die Sie gewartet haben, ist eingetroffen!«
Er hatte Recht.
Jedenfalls in gewisser Weise. Er überbrachte eine etliche Seiten lange Analyse von Ranjits Referat, genauer gesagt fünf verschiedene Analysen seiner Abhandlung über Fermats Letzten Satz. Jede diese Analysen stammte von einem anderen (namentlich nicht genannten) Autor, die mit akribischer und beinahe unverständlicher Detailfreude jede einzelne Passage auseinandernahmen, in denen Ranjit selbst Fehler oder Ungenauigkeiten entdeckt hatte.
Außerdem hatten sie nicht weniger als elf weitere Passagen gefunden, welche ebenfalls einer Verdeutlichung oder Klärung bedurften und die Ranjit trotz gewissenhafter Prüfung jedoch nicht als fehlerhaft oder ungenau aufgefallen waren. Insgesamt waren es zweiundvierzig Blatt Papier, eng mit Worten und mathematischen Gleichungen bedeckt. Ranjit nahm sich eine
Seite nach der anderen vor, überflog sie und griff dann hastig nach der nächsten; die Blätter, die er gelesen hatte, reichte er an Myra weiter, während sein Stirnrunzeln sich bei jeder neuen Seite vertiefte.
»Heilige Götter!«, stöhnte er zum Schluss, »was soll das Ganze? Haben die sich etwa solche Mühe gemacht, mir sämtliche Gründe haarklein darzulegen, warum sie mein verdammtes Referat ablehnen?«
Nervös auf ihrer Unterlippe kauend, las Myra die letzte Seite zum vierten oder fünften Mal durch. Plötzlich strahlte sie über das ganze Gesicht und hielt Ranjit das Blatt unter die Nase.
»Liebling«, begann sie - und in der ganzen Aufregung wurde keinem von beiden bewusst, dass sie ihn zum ersten Mal mit einem Kosewort anredete -, »wie lautet das letzte Wort
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