Das letzte Treffen
hier in
Keflavik ein paar Monate vor Karl Iliugason verschwunden, und manche sahen
Mafia-Cliquen in jeder Ecke. Das war seit langem die beste Saison für
Klatschgeschichten, an die ich mich erinnere. Die abwegigsten Geschichten
gingen wie ein Lauffeuer durch den Ort, und das führte
dazu, dass wir die unterschiedlichsten Behauptungen zum Verschwinden des
Jungen überprüfen mussten, die sich alle bei näherer
Betrachtung als purer Blödsinn entpuppten.«
»Zum Beispiel?«
Njördur blickt mich
eingehend über seine runde Brille an.
»Wie gut weißt du
Bescheid?«
»Matthildur hat mir
Zeitungsartikel gegeben. Auch die Interviews von Mannlif. Aber es fehlen
noch die Originalakten.«
»Dann muss ich dir
wahrscheinlich mehr über die Hintergründe erzählen.«
»Ja, unbedingt.«
»Matthildur wohnte bei
ihrem Vater zu Hause, dem alten Haflidi. Sie hatte zwei Kinder, Karl und
Maria.«
»Maria?«
»… Maria und
Karl waren Zwillinge.«
»Matthildur hat sie nie
erwähnt.«
»Illugi, der Vater der
beiden, hat die Familie ein paar Jahre vor Karls Verschwinden verlassen.
Wenn ich mich recht erinnere, heuerte er für eine Saison auf ein Boot
der Westmännerinseln an und ist dort mit einer anderen Frau
zusammengezogen. Matthildur hat auf der Base und in Rockville geputzt, um
sich und die Kinder durchzubringen.«
»Da hat sie Donald
Garber getroffen?«
»Ich weiß nicht,
wo und unter welchen Umständen sie sich getroffen haben, aber sie
waren zu der Zeit ein Paar, das ist richtig. Karl Illugason war oft mit
Jakob Geirsson zusammen, einem Gleichaltrigen, der im Nachbarhaus wohnte.
Sie spielten beide gemeinsam an dem Tag, als Karl verschwand. Sofort kamen
unschöne Gerüchte auf, dass die Jungs aneinandergeraten wären,
sich am Strand geprügelt hätten und Karl bewusstlos geworden und
ins Meer gefallen wäre. Wir wussten es besser und sagten es laut und
deutlich, aber das vermochte die Gerüchte über Jakobs
vermeintliche Missetaten kaum niederzuschlagen.«
»Ihr wusstet es besser?
Inwiefern?«
»Karl wurde am Strand
gesehen, nachdem Jakob schon bei sich zu Hause angekommen war.«
»Wer hat ihn gesehen?«
Njördur seufzt.
»Es war ein junger,
sehr dem Alkohol zugeneigter Mann, der Hermann Jónatansson hieß.
Ihm wurde nachgesagt, ein Homosexueller zu sein, was zu der Zeit eine ganz
schlimme Sache war. Die Kinder veräppelten ihn oft auf der Straße,
liefen ihm hinterher und riefen ›Hemmi Homo‹ und anderes
dieser Art. Aber egal. Hermann wachte an diesem Sonntag nach einer langen
durchsoffenen Nacht gegen Mittag auf und ging draußen spazieren. Er
traf Jakob, der da auf dem Heimweg war, und sah, dass Karl immer noch in
den Felsen herumkletterte. Diese Tatsache wurde später zu einem neuen
und noch übleren Gerücht.«
»Welchem?«
»Hermann hätte den
Jungen vergewaltigt und ihn anschließend ertränkt.«
»Konntest du ihn von
diesem Verdacht befreien?«
»Es gab nichts, was
darauf hindeutete, dass Hermann dem Jungen zu nahe gekommen wäre, er
sah ihn einfach nur aus der Ferne, aber uns ist es dennoch nicht gelungen,
dieses Gerücht aus der Welt zu schaffen. Hemmi wurde nicht in Ruhe
gelassen und musste am Ende aus dem Ort fliehen.«
»Gab es im Zusammenhang
mit dem Verschwinden wirklich keine Gerüchte über Donald?«
»Ich kann mich nicht
daran erinnern.«
»Hast du mit ihm
gesprochen?«
»Ich habe ihn an dem
Tag, an dem die offizielle Suche begann, bei Matthildur getroffen.«
»Und?«
»Wenn ich mich richtig
erinnere, habe ich seine kurze Aussage protokolliert.«
»Glaubst du, er hat mit
der Sache irgendetwas zu tun gehabt? Jetzt, wo du weißt, dass er ein
Kinderschänder war?«
Njördur antwortet
umgehend.
»Ich bin immer noch
genauso überzeugt wie 1974, dass Karl Illugason ins Meer gefallen und
ertrunken ist«, sagt er entschieden. »Das war ein Unfall und
nichts anderes. Ich finde am schlimmsten, dass Aegir seine Beute immer
noch nicht wieder ans Land gegeben hat, aber da können wir Menschen
nichts machen.«
»Matthildur ist da
anderer Ansicht.«
»Ich weiß«,
antwortet Njördur. »Es war damals meine Aufgabe, ihr
mitzuteilen, dass wir die Suche nach der Leiche eingestellt haben. Sie
nahm es, gelinde gesagt, schlecht auf. Es war ein trauriger Augenblick,
den ich nie vergessen werde.«
Ich bleibe beim Kaffee. Lasse
Kekse und Kleinur liegen.
»Bist du ganz
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