Das letzte Zeichen - Die Verschwundenen: Band 2 (German Edition)
Benjamin hatte sich geweigert, ihn anzuhören. Stattdessen hatte er darauf bestanden, dass Raffy sich hinlegte, seine Gedanken ordnete, sich besann und, so hatte er mit einem Lächeln hinzugefügt, wieder einigermaßen nüchtern wurde.
Schließlich hatte Raffy nachgegeben, hatte geschmollt, gegrübelt, sich geärgert, geraucht und seinem gerechten Zorn neue Nahrung gegeben, indem er sich Neil und Evie vorstellte, und Lucas, wie er Evie küsste, Evies finsteres Gesicht, das ihn wütend anstarrte.
Doch allmählich waren die Bilder verschwunden. Nach und nach war sein Atem ruhiger geworden, und seine Wut hatte sich gelegt, aber dafür wuchs seine Verlegenheit.
»Was tut dir leid, Raffy?«, fragte Benjamin.
»Dass ich mich wie ein Idiot benommen habe«, antwortete Raffy und wurde rot. Benjamin saß am Fußende der Liege und sah ihn mit seinen freundlichen Augen ernst an. »Dass ich Neil geschlagen habe. Dass …«
Er brach ab. Es gab so viel, was ihm leidtat. Zu viel, um es in Worte zu fassen.
»Neil ist ein guter Lehrer«, sagte Benjamin mit ruhiger, sanfter Stimme. »Ich glaube nicht, dass sein Unterricht jemals Anlass zu so einem Ausbruch gegeben hat.«
»Nein«, meinte Raffy. »Ich kann mir das auch nicht vorstellen.«
»Und trotzdem warst du so erbost über etwas, was er gesagt oder getan hat?«, fragte Benjamin neugierig.
Raffy schüttelte den Kopf und setzte sich auf. »Es liegt nicht an Neil«, sagte er mit einem Seufzer. »Es liegt an mir. Ich … ich werde jedes Mal wütend, wenn jemand Evie zu nahe kommt. Ich kann nichts dafür. Ich sehe dann einfach rot.«
»Hast du Angst, sie zu verlieren? Dass sie dich durchschaut?«
Raffys Augen weiteten sich und Benjamin lachte. »Bis zu einem gewissen Grad haben wir alle Angst davor. Ich hatte früher immer Angst, dass die Leute mich durchschauen.«
»Wirklich?«, fragte Raffy ungläubig. »Sie?«
Benjamin nickte. »Niemand ist unfehlbar. Wir alle haben Fehler.«
Raffy musste das erst einmal verdauen. Dann holte er tief Luft. »Die Sache ist die«, erklärte er, »ich darf sie nicht verlieren. Wenn ich sie verlieren würde, hätte das Leben keinen Sinn mehr für mich. Wenn ich sie mit jemand anderem lachen sehe, dann würde ich am liebsten …«
Er konnte den Satz nicht beenden.
»Denjenigen töten?«, fragte Benjamin behutsam.
Raffy sah ihn an und nickte schuldbewusst.
»Und glaubst du, dass sie dich mehr liebt, wenn du dich so verhältst?«
Raffy runzelte die Stirn. »Nein, ich glaube …« Er räusperte sich. »Sie findet mein Verhalten furchtbar. Das weiß ich. Aber sie … sie erkennt nicht … Sie …«
»Sie sieht die Welt nicht so, wie du sie siehst? Voller Bedrohungen? Voller Herausforderungen?«
Raffy nickte dankbar. Benjamin verstand ihn.
Benjamin lächelte traurig. »Raffy«, sagte er. »Weißt du, warum der Bruder euch in der Stadt so einengen konnte? Weißt du, warum er tun konnte, was ihm beliebte, warum er euch eurer Grundfreiheiten berauben und uneingeschränkt und unbehelligt nach seinen eigenen Regeln über die Stadt herrschen konnte?«
Raffy nickte. »Wegen des Systems.«
»Nein«, erwiderte Benjamin ruhig. »Das System war nur ein Teil seiner Macht. Der wahre Grund war Angst. Die Menschen hatten Angst vor der Alternative. Auch die Schreckenszeit wurde von Angst beherrscht. Angst vor den anderen. Angst, Hass und Misstrauen. Wir alle sind dafür empfänglich. Wir brauchen das: Ohne Angst würden wir in ge fährliche Situationen geraten. Ohne Angst würde die mensch liche Rasse nicht überleben. Aber ungehindert und ohne Beschränkung kann Angst eine überaus zerstörerische Kraft sein. Und das ist die Art Angst, die dich quält, Raffy. Neil ist keine Bedrohung für dich. Niemand hier ist eine Bedrohung für dich, außer du selbst. Meinst du nicht, dass Evie gar nichts anderes übrig bleibt, als die Flucht zu ergreifen, wenn du dich ihr gegenüber genauso verhältst, wie der Bruder sich in der Stadt verhalten hat? Würdest du nicht das Gleiche tun?«
Raffy starrte ihn an. Evie hatte fast genau dasselbe gesagt. Er hatte ein ungutes Gefühl in der Magengegend.
»Ich war wirklich dumm«, gestand er.
Benjamin lächelte. »Du warst ungestüm und irregeleitet. Nicht dumm.«
Raffy überlegte.
»Ich … ich will sie nicht verlieren, Benjamin. Jetzt, da wir frei sind, gibt es nichts mehr, was sie an mich bindet.«
»Doch«, meinte Benjamin sanft. »Wenn du es schaffst, deine Zweifel und deine Angst abzulegen, wirst du erkennen, dass
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