Das letzte Zeichen - Die Verschwundenen: Band 2 (German Edition)
zog seine Schuhe an und verließ das Zimmer. Er schlich den Korridor entlang und beschleunigte den Schritt, als er die Tür vor sich sah, die, wie er annahm, nach draußen führte. Dann blieb er stehen, streckte zögernd die Hand aus und zog die Tür einen Spaltbreit auf. Hier war es noch heller. Ein Treppenabsatz, eine Treppe, die hinauf- und hinunterführte. Ein Fenster, das ihm sagte, dass er sich ein Stockwerk über dem Erdgeschoss befand. Lucas stieg die Treppe hinunter und ging auf eine andere Tür zu, die offensichtlich ins Freie führte, weil er durch die Glasscheibe im Mondlicht einen Pfad erkennen konnte.
Lucas stellte sich innerlich darauf ein, dass die Tür verschlossen war. Er sagte sich, dass er ruhig bleiben und sich etwas überlegen müsste. Aber als er an dem Türgriff zog, ging sie ganz leicht auf, wie die Tür zu seinem Zimmer. Es war fast so, als hätten sie gewollt, dass er hier herauskam.
Lucas zögerte. War das eine Falle? Einen Moment lang überlegte er, ob er in sein Zimmer zurückgehen sollte. Aber eine Falle konnte auch nicht schlimmer sein als die Aussicht, in diesem Bett zu sterben. Warum sollten sie ihm eine Falle stellen, wenn sie ihn schon erwischt hatten? Wenn sie ihn umbringen wollten?
Leise schlüpfte er durch die Tür, warf einen Blick auf den Weg und auf die Zelte vor ihm und näherte sich dann ganz vorsichtig der Begrenzungsmauer des Lagers. Die Mauer war gesichert, so viel stand fest, aber irgendwo musste es einen Durchgang geben, und er musste ihn unbedingt finden.
Eins war klar: Er musste zu Raffy. Linus glaubte vielleicht, dass Raffy in Sicherheit war, aber Linus hatte ihn von einem Felsvorsprung gestoßen. Linus hatte seine eigenen Pläne und daran würde sich auch nichts ändern. Lucas’ Aufgabe war es, seinen Bruder zu beschützen, so wie er es immer getan hatte.
Lucas erinnerte sich an den Tag, an dem Raffy geboren wurde, als wäre es gestern gewesen. Er dachte daran, wie verwundert er gewesen war über dieses kleine zerbrechliche Wesen mit dem dunklen Haarschopf, den dunklen Augen und dem zerknautschten, scheinbar knochenlosen Gesicht, das da zusammengerollt lag, vollkommen hilflos, und dessen einziger Schutz ein durchdringendes Geschrei war, das alles übertönte und das in nächster Zeit das Hintergrundgeräusch im Haus sein würde. Es war ihr Vater gewesen, der ihm, Lucas, Raffy gezeigt hatte, während ihre Mutter schlief.
»Das ist dein Bruder«, hatte er seinem fünfjährigen Sohn mit ernster Miene erklärt. »Du musst auf ihn aufpassen.«
Lucas hatte seinen kleinen Bruder behutsam auf den Arm genommen und den winzigen Körper fest an sich gedrückt. Im Nachhinein dachte Lucas, dass die Worte seines Vaters keine Bedeutung hatten und dass er damit nur Lucas das Gefühl geben wollte, zu Raffys Leben dazuzugehören. Aber Lucas hatte die Worte ernst genommen. Während er auf das winzige Bündel hinabblickte, gelobte er, seinen Bruder immer zu beschützen und auf ihn aufzupassen, so gut er konnte.
In Raffys ersten Lebensjahren hieß das nichts weiter, als dass Lucas nach ihm sehen, ihm die Regeln der Stadt beibringen und ihm aufhelfen musste, wenn er hinfiel. Aber als Raffy fünf und Lucas gerade elf geworden war, wurde alles anders.
Die Nacht, als sein Vater zu ihm gekommen war, ihn aus dem Tiefschlaf gerissen und ihn aufgefordert hatte, ihm leise in sein Arbeitszimmer zu folgen, würde Lucas nie vergessen. Der Blick seines Vaters – voller Angst und voller Entschlossenheit – erfüllte ihn auch heute noch mit Trauer und Sehnsucht nach dem Mann, den er so geliebt hatte, und er war wild entschlossen, dessen Tod zu rächen. Denn das, was sein Vater ihm erzählt hatte, hatte das Ende von Lucas’ Kindheit bedeutet. Sein Vater hatte schreckliche Dinge über die Stadt herausgefunden, Dinge, die streng geheim gehalten wurden, und es war gefährlich, darüber Bescheid zu wissen. Er erklärte Lucas, dass die Ränge nicht durch das Streben nach dem Guten bestimmt würden, sondern durch das Streben nach Macht; dass er mit einem alten Kameraden außerhalb der Stadt in Verbindung stehe, der ihnen helfen könnte.
Von da an war Lucas in eine andere Welt eingetaucht, in eine Welt voller Geheimnisse, voller Schatten, in der er nie wieder seine wahren Gefühle zeigen konnte, außer gegenüber seinem Vater; in eine Welt, in der er rund um die Uhr arbeitete und von seinem Vater alles lernte, was dieser ihm beibringen konnte.
Und eines Tages kam sein Vater zu ihm und
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