Das Leuchten der Insel
einem solchen Tag ist es schwer, nicht an irgendetwas zu glauben.«
Susannah schlang beide Hände um ein Knie und lehnte sich zurück. »Ich bin ebenfalls nie sonderlich religiös gewesen«, bekannte sie. »Als Kind habe ich mir Gott immer als jemanden vorgestellt, der meinem Dad bei einem seiner Wutanfälle ähnelte – vor allem, nachdem ich das Alte Testament gelesen hatte.«
»Sind Sie in die Kirche gegangen?«, fragte Betty.
»Ab und zu. Mehr ab als zu. Wir sind in die presbyterianische Kirche gegangen. Alles, woran ich mich bei der Kirche wirklich erinnere, ist die Musik, ein sehr attraktiver Junge namens Felipe, der ständig Fragen stellte, mit denen er die Lehrer in der Sonntagsschule wirklich wütend machte – ich glaube, weil sie sie ihm nicht beantworten konnten – und der weite Blick aus dem Fenster des Altarraums über den Lake Saint Clair.«
Betty lachte: »Das klingt ziemlich treffend.«
»Ich muss Ihnen etwas erzählen, das Katie einmal gesagt hat«, meinte Susannah und sah Betty an. »Ich hoffe, Sie finden es nicht kitschig, aber es ist mir immer in Erinnerung geblieben.«
»Nur heraus damit.«
»Wir sind irgendwohin gefahren – zur Vorschule oder zum Supermarkt –, und plötzlich sagte Katie: ›Mommy, weißt du wie Gott aussieht?‹« Susannahs Gesicht belebte sich, während sie die Geschichte erzählte. »Und ich sagte: ›Ich bin mir nicht sicher, ob irgendwer weiß, wie Gott aussieht.‹ Und Katie sagte: ›Aber ich weiß es.‹ Sie war damals vier und hatte riesige dunkle Augen zu ihren dunklen Haaren. Jedenfalls fragte ich: ›Na, wie sieht Gott denn aus?‹«
Susannah legte eine Pause ein und konzentrierte sich auf etwas, das in einem fernen Winkel ihres Bewusstseins lag. Dann fuhr sie fort: »Und Katie sagte – ich werde das nie vergessen, weil sie so konkret und so sicher dabei war –, sie sagte: ›Weißt du, wenn ein Baby geboren wird, sind Gott und alle Engel genau dort in dem Raum. Wenn das Baby also rauskommt, sieht es sie alle. Aber wenn das Baby dann älter wird und weiter weg kommt von dem Tag, an dem es geboren wurde, vergisst es Gottes Gesicht. Aber ich erinnere mich noch daran.‹
Dann sagte sie: ›Gott hat ganz langes Haar und trägt einen Pferdeschwanz. Er trägt einen leuchtend gelben Pullover mit lila Tupfen und eine gebatikte Hose. Und dazu trägt er große lila Schuhe. Ich werde möglicherweise auch vergessen, wie er aussieht, wenn ich älter werde.‹ Und sie sagte mir, ich solle es aufschreiben, wenn wir nach Hause kämen, damit sie sich daran erinnern könne. Und ich habe das getan!« Susannah hatte ihre Geschichte beendet. »Aber das hat mich immer verfolgt«, fügte sie hinzu. »Die Vorstellung, dass Gott und die Engel unmittelbar anwesend sind, wenn ein Kind geboren wird, bestens sichtbar, und dass wir unser gesamtes Leben damit verbringen, zu versuchen, dem Heiligen wieder so nahe zu kommen.«
Betty lächelte: »Und wer hätte gewusst, dass Gott wie dieser Hippie-Clown aussieht? Wavy Gravy, ist das nicht sein Name? Er war in den Sechzigerjahren sehr beliebt.«
Betty sah nach oben und beobachtete, wie der Wind die Äste der Bäume bewegte. »Ich habe nie wirklich an Gott oder ein weiteres Leben geglaubt. Ich habe nur versucht, dieses Leben bestmöglich zu leben. Mein Sohn ist ein guter Mann. Er hat eine anständige Frau gefunden und geheiratet, und ich hatte das Glück, in ihrer Nähe zu leben und meine Enkel zu kennen. Ich bin in der Lage gewesen, hier zu leben …« Sie zeigte mit einer ausholenden Bewegung zum Feld, zum Wald und zum wolkenverhangenen Himmel. »Ich hatte in vielerlei Hinsicht ein besseres Leben, als ich erhoffen konnte. Aber wenn es dort einen Gott gibt, der darauf wartet, über mich zu richten, dann hoffe ich, dass Katies Version zutrifft. Es ist schön zu denken, dass ein freundlicher Mann mit einem Pferdeschwanz dort sein wird, um uns zu Hause willkommen zu heißen.«
Die fahle Dezembersonne brach erneut durch die Wolken. Ein Vogel hüpfte ihnen gegenüber durchs Gras und suchte nach Insekten.
Susannah seufzte und sagte dann: »Ich bin gekommen, weil ich nach Ihnen gesucht habe, um Ihnen zu sagen, dass wir nach Hause fahren. Ich weiß, dass ich gesagt habe, wir würden das Cottage bis Juni mieten, und ich werde Ihnen die Miete bis dahin bezahlen, obwohl wir nicht hier sein werden.«
»Sie reisen ab?«, fragte Betty ungläubig.
»Ich muss es tun.« Susannahs Stimme schwankte. »Es hat sich für mich als wirklich schwierig
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