Das Leuchten der Insel
wegzubringen. In der Nähe von Bettys Haus gab es einen ähnlichen Haufen. Susannah fuhr mit dem Pick-up die unbefestigte Zufahrt hinauf, parkte, sprang heraus und klopfte an Bettys Tür.
»Ich habe eine Frage zu dem Schrotthaufen draußen«, sagte Susannah, als Betty die Tür öffnete.
»Herr im Himmel!«, rief Betty und stemmte eine Hand in die Hüfte. »Erzählen Sie mir jetzt nicht, dass Sie versuchen wollen, uns zu ›zivilisieren‹, indem Sie mich bitten, den Schrott hinter einem dekorativen Zaun oder so was Verrücktem zu verbergen. Schrott gehört hier zum Leben.«
»Ich weiß«, sagte Susannah. »Ich wollte bloß fragen, ob ich ihn verwenden darf und ob Sie etwas dagegen hätten, wenn ich ihn durchstöbern und ein paar Sachen mitnehmen würde.«
Betty sah sie verständnislos an. »Ob ich etwas dagegen hätte, wenn Sie den Müll mitnehmen? Schatz, von mir aus können Sie ihn sich an die Bäume hängen. Ich habe seit meinem Einzug vor fünfundfünfzig Jahren Sachen auf den Haufen geworfen, und die Leute, die vor mir hier wohnten, hatten da ebenfalls einen Schrotthaufen.« Sie sah Susannah über den Rand ihrer Brille hinweg an. »Was wollen Sie damit machen?«
»Ich bin mir noch nicht ganz schlüssig.« Susannah durchsuchte ihre Jackentaschen nach ihren Handschuhen. Die Arbeit an den Collagen für den Pizza&Poetry-Tag hatten irgendetwas in ihr freigesetzt. Sie wollte etwas erschaffen , sich auf etwas anderes als ihre Kinder, sich selbst, ihre Ehe, ihre Versäumnisse konzentrieren. »Ich weiß es nicht. Irgendetwas herstellen.« Sie zögerte. »Mir fehlt mein Beruf. Ich habe gern Schaufenster dekoriert. Einmal habe ich einen Stapel alter hölzerner Bilderrahmen golden angemalt und sie überall im Schaufenster aufgehängt, mit jeweils einem einzelnen Schuh in der Mitte. Sie sahen wirklich wie Kunstwerke aus.«
Sie verharrte einen Moment lang schweigend, ganz in ihrer Erinnerung versunken. Ein anderes Mal hatte sie eine Landschaft auf eine Schaufensterkulissenwand gemalt – einen tiefblauen See mit kleinen Wellen, die goldene Schaumkronen trugen, und dieser See war von Bergen umgeben, die in leuchtenden Gelb- und Orangetönen erstrahlten und deren Hänge mit grünen und schwarzen Bäumen bedeckt waren. Sie hatte das gesamte Bild mit Pinselstrichen gemalt, die den stickereiähnlichen Mustern nordischer Strickwaren ähnelten. Dann hatte sie weiße Pullover und Fäustlinge ins Schaufenster gelegt, die sich wie Lichtflecken gegen den farbenprächtigen Hintergrund abhoben.
»Das klingt nach mehr Spaß als alle Arbeiten, die ich je gemacht habe«, meinte Betty.
»Es hat tatsächlich Spaß gemacht«, versicherte Susannah. »Aber ich habe damit aufgehört, als Katie geboren wurde.«
Mit dem Arbeiten aufzuhören, war ihr damals als einzige Möglichkeit erschienen. Ihre eigene Mutter war in Susannahs Kindheitserinnerungen eine vage Figur im Hintergrund, häufig unaufmerksam oder mit Kopf- oder Rückenschmerzen oder Nasennebenhöhlenentzündung im Bett oder in hilflosem Schweigen herumstehend, wenn ihr Vater betrunken war. Susannah war fest entschlossen, nie so eine Mutter zu werden, eine Mutter mit ängstlichen, einsamen Kindern. Ihre Kinder sollten sich immer geliebt, beschützt und sicher fühlen. Sie stillte beide jeweils ein Jahr lang, stellte die Babynahrung selbst her, brachte sie zur Kleinkindergymnastik und zu Kunstkursen. Sie arbeitete freiwillig in ihren diversen Kursen mit, spielte endlose fantasiefördernde Spiele mit ihnen, erzählte Geschichten, nähte Kostüme, veranstaltete unvergessliche Geburtstagspartys. Sie schenkte ihnen neben all den anderen Spielsachen und Spielen sogar jedes Jahr selbst gemachte Weihnachtsgeschenke.
Selbst als ihre Kinder bereits die Grund- und später die Mittelschule besuchten, engagierte sich Susannah – vielleicht ein wenig zu sehr, wie sie jetzt dachte. Sie betreute ehrenamtlich den Schulbuchmarkt zu Beginn des neuen Schuljahrs, organisierte das »Internationale Abendessen« mit Spezialitäten der verschiedenen Kulturkreise oder ordnete die Bücherregale in der Schulbibliothek. Aber all diese Verpflichtungen, diese Treffen und Veranstaltungen hatten sie gelangweit, ja, sie waren ihr sogar auf die Nerven gegangen. Sie hatte genug davon, Brownies für das Baseballteam zu backen, Flyer für den Buchmarkt zu kopieren und nach der Pizzaparty des Teams aufzuräumen und zu putzen. Ihr Leben bestand aus endlosen Schleifen von Verpflichtungen. Sie konnte sich nicht mehr
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