Das Leuchten der Insel
ihre Hilfe, um sich aufrichten zu können. Mel schlief wenig und lief nachts in dem kleinen Haus umher, wobei sie ständig den Esstisch umrundete, zwischendurch ihre Hände am Holzherd wärmte und dann ihre Wanderung fortsetzte. Betty fuhr Jim jeden Tag zur Schule und wieder zurück und trug ihn die Holztreppen der Schule rauf und runter. Zu Hause versorgte sie die Ziegen und Hühner und kochte und wusch die Wäsche, wovon ihre Hände schwielig und rau wurden. Mel half ihr bei den kleinen Dingen. Sie liebte es beispielsweise, die Wäsche zusammenzulegen und konnte gut Karotten und Kartoffeln schälen. Aber in vielerlei Hinsicht war Mel wie ein weiteres Kind, um das sich Betty nun kümmern musste.
An einem späten Februarnachmittag, als die Kiefern schon lange Schatten über die Wiese warfen, stieg Betty in den Wagen und fuhr zum Haus von Barfuß, um getrocknete Schlüsselblumen und Betonien für Mel und einen speziellen Tee für Jim zur Stärkung seiner Knochen zu holen.
Sie fand Barfuß in der Küche, wo er grübelnd über fünf Häufchen mit getrockneten Kräutern stand, die auf der Theke aneinandergereiht waren. Er trug eine Khakihose und ein weißes T-Shirt mit V-Ausschnitt und war wie immer barfuß. Ein Bandana hatte er sich nicht um den Kopf gebunden, und sein dichtes dunkles Haar ringelte sich in seinem Nacken. Er nahm das erste Häufchen und rieb die Kräuter über einer Schüssel zwischen seinen Händen, bis sie zu winzigen Stückchen zermahlen waren.
»Hallo.«
Barfuß blickte kurz zu ihr hin, dann wieder zur Schüssel. »Ich mache gerade einen Tee für Jim.«
»Was ist da drin?«
»Haferstroh, Zinnkraut, Brennnesseln, Rotklee und Beinwell. Gib ordentlich Honig dran, und er wird’s in einem Zug austrinken.«
»Sein Bein heilt gut. Ich hoffe, er kann diesen Sommer viel schwimmen. Der Arzt hat gesagt, dass Schwimmen gut für ihn wäre.«
»Das ist es.«
Barfuß zerkrümelte auch die übrigen Kräuter. Dann wandte er sich um und musterte sie, wobei seine blauen Augen von ihrem Gesicht über ihren Körper zu ihren Stiefeln und wieder nach oben wanderten. Sie fühlte sich wie entblößt durch seinen eindringlichen Blick und drehte ihren Kopf weg.
»Du siehst aus, als könntest du selbst ein Stärkungsmittel gebrauchen«, meinte Barfuß. »Wie viel Gewicht hast du verloren?«
»Das weiß ich nicht. Wir haben keine Waage.«
»Kannst du schlafen?«
Sie schüttelte den Kopf: »Nicht viel. Ich wache häufig auf. Wenn Jim nachts auf die Toilette muss, braucht er mich. Und Mel schläft schlecht und läuft manchmal durch das Haus. Die Fußbodendielen knacken, weißt du.«
Barfuß nahm eine kleine Metallschaufel vom Tresen und begann, die Kräutermischung von der Schüssel in eine kleine braune Papiertüte zu füllen.
»Wann kommt denn dein Mann nach Hause?«
Betty lehnte sich an den Türrahmen. »Am 15. April.«
Sie wollte nicht über Bill sprechen. Sie hatte ihm ein Telegramm geschickt, als sich Jim das Bein gebrochen hatte, und ihm einen Brief über Mel geschrieben. Sein Antwortbrief war voller Anteilnahme für Jim gewesen, aber er hatte nicht angeboten, früher nach Hause zu kommen, und sich auch in keiner Weise besorgt um sie geäußert, weil sie sich möglicherweise allein und erschöpft fühlte, da sie nun für Jim und Mel gleichzeitig sorgen musste.
»Ich hätte gern eine Zigarette«, sagte Betty.
»Du solltest nicht rauchen. Ich habe niemals Tabakrauch an meine Lunge gelassen.«
Sie sah sich in dem Raum um. Ihr gefiel die Küche von Barfuß, mit ihren Sprossenfenstern, durch die golden die Nachmittagssonne hereinfiel, der weißen Porzellanspüle, den schlichten Holzflächen, den weißen Schränken und der schönen Brücke mit ihren Orange- und Türkistönen. Sie sah auch zu dem in schwarzen Buchstaben geschriebenen Zitat hoch, das über der zum Gewächshaus führenden Hintertür hing:
Seit mein Haus niedergebrannt ist,
habe ich einen besseren Blick
auf den aufgehenden Mond.
M IZUTA M ASAHIDE
»Warum hast du das Zitat da oben aufgehängt?«
»Es gefällt mir.«
»Warum?«
Er sah sie wieder an. »Weil es mich daran erinnert, dass nur die Art, wie man die Dinge betrachtet, darüber entscheidet, welche Bedeutung ein Erlebnis hat.«
Plötzlich war sie zu Tode erschöpft, und zum ersten Mal spürte sie am eigenen Körper, was das im Wortsinn bedeutete. Schlagartig schienen ihre Knochen zu schwer für ihre erschöpften Muskeln und Sehnen zu sein, und sie hatte das Gefühl, als würde sie
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