Das Leuchten der Insel
Nacken und atmete ihren Geruch ein. Sie sah zum Himmel über seinem Kopf hoch und erlebte einen Augenblick vollständigen und reinen Glücks. »Wenn das Sünde ist«, dachte sie, »dann will ich mit Freuden zur Hölle fahren.«
»Willkommen daheim!«, sagte sie.
20. Kapitel
Susannah 2011
A m Tag nach Thanksgiving stand Susannah als Erste auf. Sie legte Holz im Herd nach, damit es im Wohnzimmer warm wurde, mahlte die Kaffeebohnen, setzte Wasser auf. Matt und die Kinder schliefen noch. Sie hatten ihre Mutter am Mittwoch in Friday Harbor abgeholt und sich dann gemeinsam mit den Pavalaks im weißen Cottage zum Thanksgiving-Essen getroffen. Durch das viele Kochen, Backen und Abwaschen hatte Susannah noch keinen Moment mit ihrer Mutter allein verbracht, was ihr weniger war. Mit Matt hatte sie ebenfalls noch keinen Augenblick allein gehabt, was ihr nicht so recht war.
Sie ging auf die Veranda, um die frei laufenden Katzen zu füttern. Der Himmel färbte sich am östlichen Horizont bereits blassrosa, während er über ihr noch dunkelblau war. Ein paar letzte Sterne funkelten am Himmelszelt. Der Morgen war kalt und ruhig, und der nächtliche Nebel blieb in Form von Tautröpfchen zurück, die sich auf den glänzenden Salatblättern sammelten und sich auf die hohen Grashalme in der Wiese klammerten. Sie konnte den süßen Rauch riechen, den das Feuer im Küchenherd verströmte, und das leise, heisere Trillern der Schneeammern hören.
Katie hatte sich wieder und wieder dafür entschuldigt, dass sie ihr das Marihuana-Törtchen gegeben hatte. Sie hatte sowohl Barfuß als auch Susannah einen Brief geschrieben. »Mir gefällt es hier, Mom«, hatte sie geschrieben. »Es war eine gute Idee herzukommen. Ich will hier bei dir sein. Bitte schick mich nicht nach Haus!«
Sie atmete tief durch. Eine Bewegung weckte ihre Aufmerksamkeit, und sie sah eine Gestalt auf dem Weg. Es war Lila, das Haar ordentlich gekämmt, und einen karamellfarbenen Trenchcoat über ihre Schultern gelegt. Susannahs Magen krampfte sich zusammen.
»Guten Morgen, Mom«, sagte sie, als sich ihre Mutter genähert hatte. »Hast du gut geschlafen?«
»Ja«, sagte Lila. »Es ist so still hier. Und so dunkel.« Sie trug einen roten Lippenstift, kleine Perlenohrringe und eine dazu passende Kette. Der Kragen ihrer weißen Bluse ragte leicht über den Ausschnitt ihres Pullovers hinaus. Alles, was man kontrollieren konnte, fein säuberlich gerichtet. Sie kam auf die Veranda und blieb neben Susannah stehen. »Es ist sehr friedlich hier. Ich kann verstehen, warum du dies wolltest. Du warst in Tilton ständig so beschäftigt . Ständig unterwegs.«
»Ja«, bestätigte Susannah.
»Außerdem ist es kalt«, bemerkte Lila und rieb ihre Hände aneinander. »Es gibt eine Menge gute Argumente für eine Zentralheizung.«
»Komm rein. Ich habe Feuer im Herd gemacht, und ich koche einen Tee.«
Susannah führte Lila ins Haus und bereitete eine Kanne starken Tee. Nachdem sie durch das Fenster auf die Wiese und die Tannen gestarrt und mit der Hand über den abgwetzten Cordstoff des Sofas gefahren war, setzte sich Lila an den Tisch und umfasste ihren Becher mit beiden Händen. Susannah musterte ihre Mutter – ihr scharfes Profil, das sich deutlich von Susannahs rundlichen Gesichtszügen unterschied; ihr feines weißes Haar, das so ganz anders war als Susannahs dickes dunkles Haar; ihre blassblauen Augen, die so gar nichts mit Susannahs braunen gemein hatten. Selbst mit dreiundsiebzig war ihre Mutter noch eine auffallend attraktive Frau, feingliedrig und schön. Äußerlich entdeckte Susannah nicht den geringsten Zug von sich an ihrer Mutter, genauso wenig wie umgekehrt. Physisch glich sie ganz und gar ihrem Vater, aber gemütsmäßig kam sie nach ihrer Mutter: ein ständig ängstliches Nervenbündel.
»Ich hatte gestern Abend ein schönes Gespräch mit Katie«, berichtete Lila. »Sie hat mir erzählt, dass sie an einem Boot oben auf irgendeiner Klippe arbeitet. Sie hat gelernt, mit allen möglichen Werkzeugen umzugehen.«
»Das stimmt«, bestätigte Susannah. Sie schlug drei Eier in eine große weiße Keramikschüssel, um Pfannkuchenteig zu machen. »Sie lernt, mit Holz zu arbeiten und ein wenig Verantwortung zu übernehmen. Barfuß Jacobsen, der Mann, für den sie arbeitet, lebt schon lange auf der Insel. Und er ist ein erstklassiger Botaniker. Katie hatte ein paar Probleme in der Schule, und ich wollte, dass sie beschäftigt ist. Die Arbeit an Barfuß’ Boot hat ihr sehr
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