Das Leuchten der purpurnen Berge (German Edition)
trat er ganz nah an John heran und stieß
ihm seinen Zeigefinger vor die Brust: „Wenn Emma etwas passiert sein sollte,
John Wittling, dann haben Sie allein diese Schuld zu tragen.“ Ohne Johns
Reaktion abzuwarten, marschierte er mit großen Schritten los. John schluckte
und spürte Pauls Finger noch, als dieser ihn schon längst weggenommen hatte.
Schweigend schloss sich
John der Karawane an. Sein Schritt war schleppend geworden. Paul hatte ihn
gedemütigt, und Hassan verachtete ihn. Jede Kraft war aus ihm gewichen. Ich
muss mich wieder unter Kontrolle bekommen, ermahnte er sich. Herr, ich bitte
dich, schenke mir Geduld und Nachsicht ... und erlöse mich von Hass und
Missgunst! Und bitte, lass Emma gesund werden! Kurz nachdem sie den schmalen
Durchgang passiert hatten, entdeckte er den Wagen unten am Hang. Jetzt fühlte
er doch Erleichterung. In knapp einer Stunde wären sie unten, und Emma bekäme
endlich Wasser.
12
Vielleicht besaß man nur
einen gewissen Vorrat an Angst. Irgendwann war dieser Vorrat aufgebraucht. Und
dann konnte man keine Angst mehr spüren. Sie existierte einfach nicht mehr.
Vielleicht begriff man aber auch erst im Angesicht des Todes, was für ein Leben
man geführt hatte. Das Leben war nicht ein Möbelstück, das man möglichst
unversehrt über möglichst lange Zeit hinweg erhalten musste. War das Leben
nicht eher so etwas wie ein Windhauch, der ständig seine Richtung änderte, der
mal stärker, mal schwächer blies ... und am Ende in den großen Atem der
Schöpfung einging? Emma beobachtete die zusammengerollte schlafende Schlange.
Herr, hast du mir dieses Wesen geschickt, damit ich endlich begreife?
Als das helle Viereck
auf dem Boden vor ihr allmählich den goldenen Schein des Nachmittagslichts
annahm und Wind die unter dem Wagen angestaute Hitze wegblies, hatte sie keine
Angst mehr. Noch nie in ihrem Leben hatte sie sich so ruhig und Gott so nah
gefühlt. Ihr eigenes Wollen hatte sich aufgelöst. Alles war Gott ... Sie hatte
ihr Leben ganz in seine Hand gelegt. Zum ersten Mal verstand sie, was es hieß,
sich anzuvertrauen und sein Schicksal anzunehmen.
Ein Rascheln lenkte
ihren Blick zum Wagenrad. Die Schlange hatte ihren Kopf gehoben und züngelte.
Emma wartete darauf, dass ihre Angst vor einem qualvollen Tod, vor dem Ende
ihres Lebens zurückkam. Doch die Angst blieb aus. Ja, sie hatte sogar das
Gefühl, als könne sie mit ihren Gedanken auf die Schlange einwirken. Sie
empfand die Schlange nicht mehr als Feind, warum sollte die Schlange sie also
angreifen?
In deren schmalen Augen
hatten sich die Pupillen noch weiter verengt, ihr Kopf richtete sich zum
Wagenrad aus. Wieder raschelte es. Emma bemühte sich, ihre Augen, die so lange
in das helle Viereck gestarrt hatten, an die Dunkelheit, die unter dem Wagen
herrschte, zu gewöhnen, um zu erkennen, warum die Schlange sich so plötzlich
bewegt hatte, doch vor ihr tanzten
nur Lichtblitze. Auf einmal schoss die Schlange vor – und hielt eine Maus im Maul.
Während die Schlange die
Maus zwischen ihre Kiefer presste und das Gift langsam in den Körper der Maus
pumpte, sodass deren letzte Bewegungen rasch erlahmten, wusste Emma, dass diese
Maus von Gott geschickt war, um sie, Emma, zu retten. Langsam kroch sie an der
Schlange vorbei ins Freie. Ihr war, als könne sie nach so vielen Tagen endlich
wieder atmen. Sicher, noch immer war sie schwach, aber der Schwindel, die
Übelkeit und der Schleier, der auf all ihrem Empfinden gelegen hatte, waren
verschwunden. „Danke“, murmelte sie, „danke.“
Sie ließ ihren Blick über die Ebene
wandern, die sich so unveränderlich dort unten erstreckte, und über den
strahlenden blauen Nachmittagshimmel und hinüber zu den Bergspitzen, die schon
lange Schatten warfen. Gerade als ihr wieder bewusst wurde, dass sie keinen
Tropfen Wasser mehr hatte und dass sie über ihre weiteren Schritte nachdenken
müsste, entdeckte sie die dunklen Umrisse, die sich auf dem schmalen Pfad oben
am Berg bewegten. Das mussten sie sein!
Alles war also gut gegangen, dachte sie,
und sie fühlte, wie sie von einem tiefen Vertrauen in Gott erfasst wurde. Von
jetzt an, wusste sie, war sie eine andere. Nichts könnte sie je wieder in Angst
versetzen. Da war sie sich ganz sicher.
„Paul! John!“, rief sie, als die Karawane
näher gekommen war. „Hassan!“ Jetzt sah sie, dass es Paul war, der den Arm hob
und zurückwinkte. Sie erkannte ihn an seinem Haar, das die
Weitere Kostenlose Bücher