Das Leuchten der purpurnen Berge (German Edition)
Wenn dieser Punkt nicht John war, dann hatte er sicher schon die
andere Seite des Berges erreicht, sagte sie sich. Wie spät war es überhaupt?
Sie trug keine Uhr, Paul hatte ihr immer die Uhrzeit gesagt. Paul ... Paul war
einfach weggegangen ...
Ihre Hände zitterten und
fühlten sich kalt an. Dabei war es sicher schon Mittag. Der Schatten des Wagens
war zu einem schmalen Streifen geschrumpft, und sie merkte auf einmal, dass sie
ihren Hut nicht trug. Ich muss in den Schatten, ermahnte sie sich, in den
Schatten. Auf allen vieren kroch sie um den Wagen herum. Letzte Nacht hatte sie
geglaubt, sie müsste sterben. Ihr Herz hatte nur noch ganz schwach und langsam
geschlagen, und ihre Glieder waren so schwer gewesen, dass sie sich nicht bewegen
konnte. Sie wunderte sich, dass sie den Weg um den Wagen herum überhaupt
schaffte. Als sie endlich den Durchschlupf erreicht hatte, legte sie sich auf
den Boden, wäre am liebsten einfach dort eingeschlafen. Doch die Sonne brannte
von einem hellblauen, wolkenlosen Himmel und sie musste in den Schatten. So
zwang sie sich, bis unter den Wagen weiterzukriechen Sie streckte die Hand nach
dem Blechbecher aus, den John mit dem Rest Trinkwasser gefüllt hatte. Ihre
Finger tasteten über den Rand und ... oh, nein ... Der Becher fiel um. Hektisch
versuchten ihre Finger, den Becher zu fassen, doch die letzten Tropfen waren
schon herausgelaufen und bildeten dunkle, feuchte Flecken im Sand. „Lieber
Gott“, flüsterte sie, „lass mich nicht verzweifeln.“
Sie versuchte sich wach
zu halten, indem sie zwischen den Kisten hindurch in die Helligkeit des Mittags
hinaus sah. Die Ebene war zu einer gleißenden Fläche geworden, die ihre Augen
blendete. Sie spürte ihr Fieber. Ihre ausgetrocknete Kehle schmerzte, und das
Schwindelgefühl wurde stärker. Eine Zeit lang kämpfte sie dagegen an, riss
immer wieder die Augen auf, stemmte sich mit den Armen vom Boden ab, damit sie
nicht zusammensackte, doch schließlich waren ihre Kräfte verbraucht.
Verzweifelt kauerte sie sich auf dem Boden zusammen. Bald mussten sie
zurückkommen. John und Paul und Hassan ...
Ein Geräusch weckte sie.
Schwerfällig hob sie die Augenlieder. Das Licht ließ sie zurückzucken. Aber war
nicht ein Schürfen oder Reiben in ihre wirren Phantasien eingebrochen? Da! Im
hellen Viereck des Eingangs lag etwas. Ihr Gehirn arbeitete langsam. Was war
das? Schwarz hob es sich von der gleißenden Helligkeit ab. Ihr Instinkt schlug
Alarm, zwang sie, sich aufzurichten. Sie riss sich zusammen, sammelte all ihre
Kraft und stützte sich auf die Arme. Aber ... Sie starrte das schwarze,
glänzende Etwas an ... Das war doch ... Aber John hatte sie doch getötet ...
die Schlange ... Im Gegenlicht sah sie das Gewehr, das an der Außenseite des
Wagens lehnte. John hatte es dahin gestellt, nachdem er auf die Schlange
geschossen hatte ... oder nicht?
Sie zuckte zurück. Das
schwarze Etwas hatte sich bewegt. Es gab keinen Zweifel: Es war eine Schlange.
Noch eine Schlange. Wo eine Schlange ist, ist oft eine zweite, hatte sie gehört
... Sie musste jetzt klar denken. Ihr Herz hämmerte, ihr Atem ging rasend
schnell. Das Gewehr lehnte außen am Wagen, auf halbem Weg zwischen ihr und der
Schlange. Wer wäre schneller?
Ein Lichtstrahl blitzte
auf der glänzenden Schlangenhaut. Hinter dem Kopf, der nur wenige Zentimeter
über dem Boden schwebte, krümmte sich der Körper seitlich, sodass der Kopf in
einer blitzschnellen Bewegung nach vorne schnellen könnte. Lieber Gott, Jesus
Christus, Heiliger Geist, steh mir bei! Lass dein Geschöpf, die Schlange, etwas
anderes suchen als mich ... Was sollte sie tun? Nach hinten konnte sie nicht
fliehen. John hatte den Wagen mit Kisten umstellt. Emma streckte vorsichtig den
Arm nach hinten, versuchte, eine Kiste zurückzuschieben. Unmöglich. Sie war
viel zu schwer. Es gab nur einen Weg
unter dem Wagen hervor - und genau dort lag die Schlange. Leise zischend
züngelte die lange gespaltene Zunge. Ihr Kopf bewegte sich nun über die Grenze
zwischen dem Licht und dem schmalen Streifen Schatten, den der Wagen warf. Es
war zu spät, um zum Gewehr zu stürzen. Emma hätte sich direkt vor die Schlange
werfen müssen. Die Schlange kroch näher, langsam und geschmeidig und fast
lautlos, bis auf das leise Zischen der Zunge und das kaum hörbaren Schürfen der
Haut auf dem rauen, trockenen Boden. Emma wagte kaum zu atmen. Sie starrte die
Schlange an, als könne
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