Das Leuchten der purpurnen Berge (German Edition)
verbarg, sie fühlte Mitleid mit
ihm und betete, dass er wieder gesund würde. Wenn er schon ihre Liebe nicht
erwidern konnte, dann sollten sie doch wenigstens in Achtung und Freundschaft
miteinander leben.
„Du weißt, was die
Menschen sich gegenseitig antun. Sie haben sich abgeschlachtet, mitten in
Europa ...“ Er atmete schnell und flach. „Sprich nicht so viel ...“ „Wenn nun
auch die Kirche, Martin Luthers Kirche, die stets gegen den Frevel ...“
„Paul!“, ermahnte sie ihn sanft. „Wir müssen die Kirche rein halten. Wir dürfen
nicht zulassen, dass sich unsere Gegner wie Geier auf uns stürzen, weil sie
einen Makel entdeckt hab -!“ Er rang nach Luft. „Paul!“, unterbrach sie ihn
streng. „Du darfst dich nicht so aufregen!“ „Denn dann verliert die Kirche an
Glaubwürdigkeit und Autorität. Und die Menschen haben fortan nichts mehr, was
sie abhält von Raub und Mord und ...“ Er deutete mit zitternder Hand auf das
schwarze Buch auf dem Nachttisch. „Schlag es auf. Die Bergpredigt, Kapitel
fünf, Vers sieben!“
Sie nahm die Bibel von
Hermann Weiß und schlug die Seite auf. „Lies vor!“ Mit dem Finger fuhr sie über
die zerlesenen Seiten. Hermann Weiß hatte diese Stelle wohl oft aufgeschlagen.
Sie holte Luft und begann: „ Selig
die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit erlangen .. .“. Sie wollte weiterlesen, doch er
unterbrach sie. „Emma, bitte, verzeih mir.“ Sein Händedruck wurde stärker. „Ich
war nicht immer gerecht zu dir. Ich bin auch nur ein schwacher Mensch. Sei
barmherzig ... Lies weiter!“ Sie räusperte sich. „ Selig, die reinen
Herzens sind, denn sie werden Gott schauen.“ „Vergib mir, Emma ...“ Sie schluckte gegen den Kloß in ihrem
Hals an. „Selig die Friedensstifter,
denn sie werden Söhne Gottes heißen. Selig, die verfolgt werden um der
Gerechtigkeit willen, denn ihrer ist das Himmelreich.“ „Emma, ich wollte nur die
Wahrheit.“ Sein Gesicht glühte im Fieber und in der Erregung, die ihn erfasst
hatte. „Der Herr hat mich gerufen, um die Wahrheit zu finden ...“, sagte er mit
erstickter Stimme. „Paul, ich will auch die Wahrheit finden, die ganze Zeit,
aber du ...“ Sie brach ab, sie wollte ihm jetzt keine Vorwürfe machen. „Es tut
mir Leid, ich wollte dich damit nicht belasten ...“ „Womit, Paul?“ Sie hörte
selbst, wie verzweifelt sie klang. „Bitte, sag mir endlich ...“ „In der
Schublade im Schreibtisch ... ist ein Foto. Geh und sieh es dir an.“ Zögernd
stand sie auf und ging ins Arbeitszimmer. Der Schreibtisch hatte nur eine
Schublade. Mach sie auf!, befahl sie sich, und entschlossen griff ihre Hand
nach dem Schlüssel und drehte ihn.
Das Foto lag obenauf.
Sie nahm es heraus. Es war ein vergilbtes Familienfoto, die rechte Ecke
abgerissen. Ein Paar saß nebeneinander und blickte mit ernster Miene in die
Kamera. Beide waren sehr sorgsam frisiert und gekleidet. So ähnlich sahen auch
ihre Großeltern auf einem Foto aus. Sie hatten sich extra für den Fotografen
hübsch gemacht. Auf dem Schoß der Frau hockte ein kleines Kind, ein Junge wohl,
neben den Eltern stand rechts und links je ein weiterer Junge. Dahinter, in der
zweiten Reihe, sah sie noch zwei Jungen und ein Mädchen. Den Jungen ganz links
in der hinteren Reihe erkannte sie sofort. Es war Paul. Sie bemerkte sein
Grübchen am Kinn, sein Haar, das, auch wenn es kurz geschnitten war,
widerborstig abstand, und sie sah die hellen Augen, die entschlossen und ernst
in die Kamera blickten.
Was wollte Paul ihr mit
diesem Bild sagen? Ganz sicher wollte er ihr nicht zeigen, wie er als Dreizehn—
oder Vierzehnjähriger ausgesehen hatte. Sie betrachtete es genauer. Irgendetwas
im Gesicht der Mutter kam ihr bekannt vor. Aber was? Der Blick? Dann wusste sie es. Nicht die
Mutter ... das Mädchen neben Paul kam ihr bekannt vor. Die Augen, die durch den
Fotografen und den Betrachter hindurchsahen, der abwesende Ausdruck ... Konnte
das wirklich sein? War es möglich, dass dieses Mädchen niemand anders war als
... ?
Endlos lang, so kam es
ihr vor, starrte sie auf das Foto. Dann kehrte sie ins Schlafzimmer zurück.
„Jetzt weißt du es“, sagte er tonlos. „Margarete Weiß war deine Schwester?“
„Ja.“
„Aber warum hast du so ein Geheimnis
daraus gemacht?“
Er atmete tief durch.
„Ich wollte unbedingt hierher, um herauszufinden, was mit ihr passiert ist“,
sagte er. „Ich wollte auch deswegen diese
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