Das Leuchten der purpurnen Berge (German Edition)
für die Kranken hatte tun können. In den Jahren nach dem
Krieg hatten sie viele Fleckfieberfälle gehabt, was ähnliche Symptome
hervorrief wie die, an denen Sam offensichtlich litt. Aber die durch Läuse
übertragene Krankheit gab es, soweit Emma wusste, nur in kühleren Breiten.
„Sam, zeigen Sie mir Ihre Zunge.“ Die fiebrigen Augen des Kranken suchten müde
Emmas Blick. Langsam öffnete er den Mund. Auf der Zunge war ein dicker grauweißer
Belag. „War ihr Stuhl
gelblich?“ Sam schüttelte schwach den Kopf. „Blutig?“ Wieder schüttelte er den
Kopf, was ihm sehr viel Mühe zu bereiten schien. „Was ist es?“, wollte Paul
wissen. Emma drehte sich zu den drei Männern um, die sie fragend ansahen. „Ich
kann es nicht sagen. Offenbar ein Fieber.“ Zu dem Kranken gewandt, fragte sie:
„Sam, können Sie sich an irgendetwas erinnern, das ihre Krankheit ausgelöst
haben könnte? Was haben Sie an diesem Tag oder kurz davor gemacht? Wo waren
Sie?“ Plötzlich flackerten seine Augen panisch auf, zugleich schüttelte er den
Kopf. „Was ist, Sam? Sagen Sie es!“, ermunterte ihn Emma, die noch immer neben
der Bank kniete. Er murmelte etwas, doch sie konnte es nicht verstehen. Sie
beugte sich näher zu ihm. „Was, Sam?“ „Der Knochen ...“ Es war nur noch ein
Hauchen, was Sam von sich gab. „Der Knochen?“, wiederholte Emma. Sie war sich
nicht sicher, ob sie richtig verstanden hatte. „Haben Sie Knochen gesagt?“ Ein schwaches Nicken, das Flackern in den Augen
war verschwunden. Aus ihnen sprach nur noch nacktes Entsetzen. „Was für ein
Knochen,?“ Sam schüttelte den Kopf, presste die aufgesprungenen Lippen
aufeinander. „Sam, was für ein Knochen?“ „Was meint er?“, fragte Carl
Gustavsson, der noch immer die Hand schützend vor seine Nase hielt. Sams Blick
wandte sich von Emma ab und wurde starr. „Sam!“ Emma klopfte ihm auf die
Wangen, und sein Blick kehrte zu ihr zurück. „Sam, was für ein Knochen?“ Ihr
Gesicht war ganz dicht an seinem Mund, säuerlicher Geruch stieg ihr in die
Nase, er schloss die Augen – und schwieg.
Emma maß die
Temperatur, über neununddreißig Grad, machte Umschläge für Waden, Leber und
Stirn und verabreichte Sam zur Entzündungshemmung zwei Aspirin – neben
ein paar Tinkturen die einzige Arznei, die sie von zu Hause mitgenommen hatte.
Mehr konnte sie nicht für ihn tun.
Eine Weile war es still
im Waggon. Längst schon hatte sich der Zug in Bewegung gesetzt und das Tickeditack
wieder aufgenommen. Draußen zog die ewiggleiche Landschaft vorbei. Auf
einmal räusperte sich Carl Gustavsson. „Meiner Ansicht nach“, fing er an,
„könnte ‚Knochen’ auf zwei verschiedene Weisen gedeutet werden.“ Er musterte
den Kranken, der hin und wieder die Augen öffnete. „So?“ Das war Paul, der den
Mann mit skeptischem Interesse ansah. „Ja“, sagte Carl Gustavsson überzeugt,
ohne den Blick von dem Kranken zu nehmen. „Erstens könnte es sich um
verdorbenes Fleisch von einem Knochen handeln, das er zu sich genommen hat.“ Er
machte eine Pause und legte den Kopf noch schiefer. „Und zweitens?“ Jetzt
beteiligte sich auch John an der Unterhaltung. „Zweitens ...“ Carl Gustavsson
holte Luft und machte wieder eine Pause. „... zweitens könnte es schwarze Magie
sein. Ich habe mich bei meinen Forschungen in Afrika damit beschäftigt. Ein
höchst, wirklich höchst interessantes Phänomen. Der ‚Verhexte’ stirbt ganz
langsam, ohne erkennbare Ursachen. Das sollen die hiesigen Eingeborenen
praktizieren.“ Ein Schauer überlief Emma. Schon protestierten auch John und
Paul. „So einen Unsinn habe ich auch schon gehört. Aber es entbehrt doch
jeglicher wissenschaftlichen Grundlage.“ Das kam von Paul, worauf der Schwede
leise lachte. „Sicher gibt es solche Praktiken“, sprach Paul weiter, „aber sie
entfalten ihre Wirkung nur über Suggestion. Wenn ich mir lange genug einrede,
dass ich sterbenskrank bin, dann werde ich es auch. Und dieser Mann hier“, er
machte mit dem Kopf eine Bewegung zu dem Kranken hin, „dieser Mann hier ist ein
Weißer, und er glaubt ganz sicher nicht an diesen Hokuspokus!“ In diesem
Augenblick wandte Sam den Kopf. Seine Augen waren gerötet und glasig, seine
Lippen zitterten, ohne dass er ein Wort hervorbrachte. „Sam?“ Emma beugte sich
zu ihm. „Sam, was wollen Sie uns sagen?“ Sam sah sie kurz an, doch dann rollten
die Pupillen nach oben. Emma erneuerte die
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