Das Leuchten der purpurnen Berge (German Edition)
durchaus auf einige Passagiere beruhigend wirken, hieß es.
Emma besaß nicht die
passende Garderobe, lediglich ein selbst geschneidertes Kleid, das als
Abendkleid durchgehen konnte. Es war ein wadenlanges Chiffonkleid mit ägyptisch
anmutenden Stickereien und einem tiefen Rückenausschnitt. Das hatte sie anfangs
sehr gestört. Doch bereits am zweiten Tag sagte sie sich, dass sie dort, wo sie
hingingen, keine Abendkleider benötigte. Warum also sollte sie sich mit diesem
Plunder abschleppen?
Man hatte gerade das
Abendessen, bestehend aus Suppe, Tafelspitz mit Kartoffeln und Kompott,
beendet. Herr Friedrich hatte sein Essen mit wenigen Bissen
hinuntergeschlungen, während seine Frau nur winzige Stückchen abschnitt und
unendlich langsam kaute. Am Ende hatte sie die Hälfte vom Tafelspitz ihrem Mann
hinübergeschoben, der den Teller in Sekundenschnelle geleert hatte. Wie man
arbeitet, so isst man. Emma erinnerte sich an den Spruch, den ihre Großmutter,
die Bäuerin, so oft beim Mittagessen zitiert hatte, wenn sie, Emma, mit dem
Tempo ihres Großvaters und dem der Knechte nicht mithalten konnte. Sie sprachen
über Ottmar Friedrichs Tätigkeit. Er war Kaufmann und hatte vor, in Australien
eine Handelsniederlassung zu gründen.
„Jeätzt muss man da
runter“, erklärte er und knüllte die Serviette zusammen. „Ich wollte das
Projekt schon vor Jahren in Angriff nehmen, aber dann kam dieser Krieg
dazwischen, und unten in Australien haben sie die Deutschen in Lager gesteckt
und die deutschen Ortsnamen in englische umbenannt.“ Er schüttelte den Kopf.
„Ich hätte da schon längst ein Vermögen machen können! Fleischtransporte, zum Beispiel. Diese
neuen Kühlschiffe machen es möglich, Frischfleisch über drei Wochen und länger
zu transportieren.“ Sein Gesicht war rot und glänzte, nicht nur vom Wein, den
er mit seiner Frau genossen hatte. Emma und Paul tranken Wasser. „Aber Sie, was
wollen Sie denn mitten in der Wildnis? Neumünster? Noch nie gehört. Ich
bewundere Ihren Mut, Ihren Idealismus. Ich muss sehen, was ich reinstecke und
was ich rauskriege. Ich sage Ihnen“, er beugte sich über den Tisch, „man muss
mit der Zeit gehen. Wissen Sie, warum ich meist nicht erste Klasse buche?“
Amüsiert sah er zuerst Paul, dann Emma an. Paul reagierte nicht, aber Emma
fühlte sich verpflichtet, höflich zu sein und fragte: „Warum?“ „Ha!“ Er lehnte
sich zurück und verschränkte, befriedigt über das Interesse seiner Zuhörer, die
Arme vor seinem runden Bauch. „Ich hab’ mich schon immer gerne unters Volk
gemischt. Man muss wissen, was die Leute denken und fühlen, sonst erlebt man
eines Tages eine böse Überraschung!“ Ein auffälliger Siegelring prangte an
seinem kleinen Finger. Paul lächelte dünn, erwiderte aber nichts. „Hildchen“,
redete Herr Friedrich weiter, „wie wär’s noch mit einem Gläschen?“ Seine Frau
hielt ihm sogleich ihr Weinglas hin und sagte kaum hörbar: „Gern.“ „Und Sie,
Herr Pastor und die Frau Gemahlin, kommen Sie, auch für Sie ein Gläschen!“
„Nein“, sagte Paul
entschieden, „wir trinken nicht.“ Nun, er hat ja Recht, dachte Emma, auch wenn
er mich nicht gefragt hat. Zum letzten Mal hatte sie vor drei Monaten Wein
getrunken, an ihrem Geburtstag. „Aber Sie kennen doch den Spruch: In vino
veritas.“ Der Düsseldorfer Kaufmann hielt noch immer die Weinflasche in der
Hand. „Frau Pastor? Nicht einmal einen winzigen Schluck?“ Er zwinkerte ihr mit
seinen flinken Augen zu. Emma fühlte sich im Zwiespalt, doch dann sah sie
hinüber zu der stillen Hilde Friedrich und hielt ihm lächelnd ihr Glas hin.
„Aber nur einen kleinen Schluck, Herr Friedrich.“ Schwungvoll beugte sich Herr
Friedrich über den Tisch und goss Emma Wein ein. Es wurde mehr als ein kleiner
Schluck. „Hoppla!, ach das schaffen Sie schon. Und wenn Sie nicht mehr laufen
können, dann lassen Sie sich von Ihrem Herrn Gemahl in die Kajüte tragen!“ Er
lachte fröhlich und prostete Emma zu. Über den Rand ihres Glases registrierte
sie ein Zucken in Pauls Gesicht. Sie griff nach seiner Hand. Sie war kalt.
Eine Musikkapelle, die Musiker
in schwarzen Anzügen, begann sich auf der Bühne einzurichten. Die Kellner
eilten umher, damit beschäftigt, das Geschirr abzutragen. An einigen Tischen
wurde laut gelacht. Emma erkannte die dralle Frau wieder, die bei der Abreise
seekrank geworden war. Jetzt trug sie einen turbanartigen Hut und hatte
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