Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Leuchten in der Ferne: Roman (German Edition)

Das Leuchten in der Ferne: Roman (German Edition)

Titel: Das Leuchten in der Ferne: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linus Reichlin
Vom Netzwerk:
waren, wie ausgeblasen.
    Ja, es geht schon, sagte Miriam. Ich hätte Sinan nicht anrufen sollen, das hat ihn nur daran erinnert, dass ich nicht da bin. Es geht ihm ja gut, er mag Dorle sehr und fühlt sich wohl bei ihr. Und sie liebt Sinan auch, sie kennt ihn, seit er ein Baby war. Vor einem Jahr war er schon einmal eine Woche bei ihr, als ich beruflich nach England musste. Sinan hat sich bei ihr so wohlgefühlt, dass er ziemlich enttäuscht war, als ich aus England zurückkam. Miriam lächelte. Ich glaube, er versteht auch, sagte sie, dass ich Geld verdienen muss und dass ich deswegen wegmusste. Ich habe ihm nicht gesagt, dass ich nach Afghanistan gehe. Afghanistan, das ist für ihn sein Opa. Er macht da keinen Unterschied. Wenn ich ihm gesagt hätte, dass ich nach Afghanistan fahre, hätte es sich für ihn angehört, als würde ich sagen, ich gehe zu Opa. Mein Vater hat ihm oft afghanische Märchen erzählt und ihm auf der Landkarte gezeigt, wo seine Ahnen gelebt haben.
    Und wo war das?, fragte Martens.
    Mein Vater stammte aus der Provinz Char Darah, sagte sie. Sinan hat ihn sehr geliebt, er würde es nicht verstehen, dass ich allein nach Afghanistan fahre. Ich sagte ihm, dass ich nach England fahre und dort Fotos von der Königin mache. Er sagte, Mama, ich möchte nicht, dass du weggehst, aber wenn die Königin es dir befiehlt, musst du gehen. Miriam sprach weiter, aber Martens konnte sich einen Augenblick lang nicht darauf konzentrieren, was sie sagte, er dachte, soll ich sie fragen? Vor zwei Wochen hatte er aus Neugier im Internet ihren Namen eingetippt. Sie hatte ja behauptet, sie habe früher als Fotografin für englische Zeitungen gearbeitet. Ihr Name war aber kein einziges Mal aufgetaucht – sehr merkwürdig für jemanden, dessen Fotos in Zeitungen gedruckt worden waren. Selbst bei einem weniger bekannten Fotografen hätte man mit einigen Autorenvermerken gerechnet. Beim Einchecken des Gepäcks vorhin war ihm aufgefallen, dass sie keine Kameratasche dabeihatte. Professionelle Fotografen reisten aber immer mit Kameratasche. Er überlegte also, ob er sie fragen sollte, für welche englischen Zeitungen sie gearbeitet hatte, aber ein Gefühl sagte ihm, dass es besser war, es vorläufig nicht zu tun und abzuwarten, ob sich nicht alles von allein klärte.
    Vor drei Monaten ist mein Vater gestorben, sagte Miriam. Sinan fragte, warum kommt denn Opa heute nicht, und ich konnte es ihm einfach nicht sagen. Er hat sich immer so gefreut, wenn er wusste, dass sein Opa ihn besuchte. Und dieses Strahlen auf seinem kleinen Gesicht – ich wusste, wenn ich ihm sagte, dass sein Opa tot ist, würde ich dieses Strahlen nie mehr sehen, es würde für immer weg sein. Dieses Glück, dass sein Opa ihn besuchte, würde es in seinem Leben nie mehr geben. Ich wollte einfach, dass Sinan sich noch so lange wie möglich auf seinen Opa freuen kann, noch ein letztes Mal in seinem Leben. Ich sagte ihm, er kommt, wenn du noch dreimal geschlafen hast. Ich habe es immer weiter hinausgezögert. Aber eines Tages ging das natürlich nicht mehr. Ich werde nie vergessen, wie sein Gesicht erlosch, als ich ihm sagte, dass sein Opa tot ist. Es erlosch wirklich. Sinan hat sofort verstanden, was der Tod ist, dass dieser Mensch, den man liebt, nicht mehr da ist, nie mehr. Ich konnte ihn auch nicht mit dem Himmel trösten, dass es Opa da oben gut geht und dass er bei den Engeln weiterlebt. Er hat einfach nur geweint und gelitten. Er hat einen Teil seines Glücks verloren. Für immer. Dieses Glück, wenn sein Opa ihn hochhob und Flugzeug mit ihm spielte. So etwas kann nicht ersetzt werden durch ein anderes Glück. Jedes Glück ist einzigartig, und es ist schrecklich zu sehen, wie ein Kind das verliert.
    Miriam schwieg. Sie umfasste mit der einen Hand ihre andere, sich selber tröstend hielt sie sich fest, als gebe es niemanden sonst, der das hätte tun können. Martens zog seine Umhängetasche unter dem Vordersitz hervor und holte die ungarische Salami heraus, die er mitgenommen hatte als Überraschung für Miriam.
    Für uns, sagte er und biss das eine Ende der Salami ab, damit er die Haut abziehen konnte. Ein Messer wäre praktischer, sagte er, aber Sie kennen ja die Sicherheitsvorschriften. Wir werden einfach hineinbeißen, einmal Sie, dann wieder ich, wir teilen brüderlich.
    Er legte seine Hand auf ihre.
    Sie biss ein Stück der Salami ab, kaute, reichte ihm die Salami zurück, und auch er biss zu. Und so aßen sie die ganze Salami mit großem Genuss,

Weitere Kostenlose Bücher