Das Leuchten in der Ferne: Roman (German Edition)
die Familie des Vaters, warum hat er sie in fünfzig Jahren kein einziges Mal besucht? Er war Paschtune, Paschtunen haben einen starken Familiensinn. Ihr Vater lebte in Deutschland, dachte Martens, er hätte sich die Reise nach Afghanistan leisten können, und bestimmt hat die Familie von ihm erwartet, dass er sie besucht und Geschenke und Geld mitbringt. Warum ist er kein einziges Mal hingefahren? Ihr Sohn heißt Sinan, dachte Martens, das ist ein türkischer Name, warum gibt sie ihm einen türkischen Namen und keinen afghanischen? Sie sagt, sie spricht Pashto und Dari, beide Landessprachen, warum lernt sie die Sprachen, besucht aber nie ihre Verwandten?
Es war eine ziemlich lange Liste von Fragen.
Martens rauchte, trank den Rest des Rieslings und schaute hinauf in den funkelnden Sternenhimmel, das unnahbare Licht der Sterne, die unendliche Distanz zwischen ihm und ihnen, dieser sinnlose Überfluss an Raum.
Zeichen
Am nächsten Tag flogen sie mit der Transall nach Mazar-i Sharif, festgegurtet an harte Sitze, eine Unterhaltung war unmöglich. Die Transall war eine laute, mit Menschen und Material vollgestopfte Blechröhre, angetrieben von zwei Propellermotoren. Martens dachte, dass er, wenn er in drei Wochen nach Berlin zurückkam, seine Steuererklärung endlich machen musste, und daran, dass er es dachte, merkte er, dass er Angst hatte.
Das war merkwürdig, denn er hatte sonst im Einsatz nie Angst. Nicht vor Ereignissen jedenfalls, die, wenn sie eingetreten wären, den sofortigen Tod bedeutet hätten. In all den Jahren hatte er sich in gefährlichen Situationen immer nur gefürchtet vor Verstümmelung und vor allem vor der Folter. Die Wahrscheinlichkeit, als ausländischer Journalist gefoltert zu werden, war zwar gering, es kam fast nie vor, denn die an einem Konflikt beteiligten Parteien waren an der Berichterstattung über sie meistens außerordentlich interessiert. Aber manchmal hatte man es mit verwilderten Bandenführern zu tun, die, wie etwa in Liberia in den Neunzigerjahren, ständig betrunken oder von Benzindämpfen zugenebelt waren. Man konnte sich nicht darauf verlassen, dass es ihnen, nachdem sie ihre Taten ins Mikrofon geprahlt hatten, nicht doch noch einfiel, dem Journalisten mit einem Messer Fingerglieder abzutrennen.
Sich vor der Folter zu fürchten war legitim, aber nun erfasste Martens zum ersten Mal ein Grauen auch vor dem schnellen Tod. Er konnte sich nicht von dem Gedanken lösen, dass jetzt unter ihnen, auf afghanischem Territorium, ein paar junge Männer in heller Aufregung die einzige ihnen zur Verfügung stehende Boden-Luft-Rakete abfeuerten. Ein Treffer hätte das sofortige Ende bedeutet, kein Schmerz, kein Leiden, keine letzten Gedanken, keine Selbstvorwürfe, dass man sich ohne Not dieser Gefahr ausgesetzt hatte. Ein gnädiger Tod für jemanden, der sich im Klaren darüber war, warum er tat, was er tat. Aber Martens war sich jetzt nicht so sicher. Zum ersten Mal in all den Jahren dachte er, dass er sich womöglich aus Gründen in Gefahr begab, die ihm völlig verborgen waren und die nichts mit der oberflächlichen Erklärung zu tun hatten, dass er mit der Routine des Alltags schwer zurechtkam und jede Gelegenheit nutzte, der Repetition zu entgehen. Das spielte zwar bestimmt eine Rolle. Aber jetzt, in dieser Transall, fragte er sich, ob es da nicht noch tiefer liegende Gründe gab, die sich vor ihm tarnten, um nicht erkannt zu werden, und die heimlich sein ganzes Leben lenkten. Und jetzt zu sterben, ohne vorher erkannt zu haben, warum, das war es, was seine Angst erzeugte. Zu sterben als einer, der sich selbst nicht erkannt hat.
Er fing Miriams Blick auf.
Es war ein unruhiger Flug, die Maschine stürzte in böse Löcher.
Miriam schaute ihn an, geduldig und offen, es war ein Blick wie eine Einladung, sich zu setzen und ihr alles zu erzählen. Sie schauten sich lange an, und daran genas er, es linderte seine Angst, er dankte ihr durch ein Lächeln. Sie erwiderte es, ein wenig verlegen, für einen Moment hatte sie ein Kindergesicht, und es entzückte ihn. Er dachte, sie hat gestern mein früherer Mann gesagt, nicht mein Exmann, auch das gefiel ihm, auch das war etwas, das er jetzt als Zeichen empfand. Er nannte Sandra nie seine Exfrau, er fand, dass dieser Begriff die Liebe, die einst gewesen war, herabwürdigte. Nicht einmal eine Wohnung nannte man Exwohnung, wenn man nach Jahren umgezogen war. Warum also sollte man das Ex für jemanden verwenden, mit dem man zehn Jahre seines Lebens
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