Das Leuchten in der Ferne: Roman (German Edition)
Zeit zum Herumschauen hatten, konnten ihre Blicke mühelos von ihr abwenden, kaum einer schaute ein zweites Mal hin. Sie war nicht die Frau, die ihnen auf Anhieb einleuchtete, ihnen fehlten die Signale, auf die jeder Mann unwillkürlich reagiert. Miriam war eine Frau für Männer, die vor der Büste der Nofretete nichts vermissten, aber das war keine Tugend, und Martens vermisste an Miriam durchaus etwas. Das machte aber nichts. Er wollte nicht mit ihr schlafen, er wollte neben ihr liegen und ihr Rilke vorlesen, an einem späten Nachmittag, bei offenem Fenster, ein warmer Wind weht ins Zimmer, und eine Amsel singt. Oder noch besser Schnee, in dicken Flocken fällt er, und man liegt unter der Bettdecke, ein Kaminfeuer knistert.
Der Kamin in dem Haus in Tuzla.
Martens konnte an das gemütliche Feuer nicht denken, ohne dass ihm dieser Kamin einfiel.
Tuzla im Winter ’94, seit Wochen belagert von den serbischen Nationalisten. Es war Martens und Lützow, einem Fotografen, gelungen, in die Stadt zu gelangen, sie wollten über die Versorgungslage der Eingeschlossenen berichten. Vor dem Granatbeschuss brachten sie sich in einem verlassenen, teilweise zerstörten Haus in Sicherheit, und sie sahen in dem Kamin die Knochen. Draußen platzten die Granaten, man konnte das irrsinnige Sirren der Splitter hören und das dumpfe Klacken, wenn einer von ihnen in die Hausmauer einschlug. Über dem Kamin hingen gerahmte Schwarz-Weiß-Fotos: Bob Dylan in den frühen Sechzigern mit Zigarette im Mund, die Gitarre auf den Knien, Catherine Deneuve in einem Szenenfoto aus Belle de Jour, Sartre, nach links und nach rechts blickend, Elvis in der Uniform, die er während seines Dienstes in Deutschland getragen hatte. Und darunter im Kamin die Menschenknochen. Welche Menschen hatten in diesem Haus gewohnt, durch das der Wind pfiff, aber nein, das war nicht die Frage. Die Frage, die sich Martens stellte, als er diese Fotos im Zusammenhang mit den Knochen sah, war: Wem kann man trauen?
Daran dachte er jetzt, als die Transall startete, und dass er Jahre später auf Rilkes Gedicht Menschen bei Nacht gestoßen war, ganz zufällig, in der Bibliothek eines Hotels an der Ostsee, an einem regnerischen Nachmittag.
Die Nächte sind nicht für die Menge gemacht.
Von deinem Nachbar trennt dich die Nacht,
und du sollst ihn nicht suchen trotzdem.
Und machst du nachts deine Stube licht,
um Menschen zu schauen ins Angesicht,
so mußt du bedenken: wem.
Feyzabad
Am späten Nachmittag landeten sie in Feyzabad, ein kräftiger Bergwind wehte und ließ einen im Schatten frösteln, während es einem an der Sonne sofort zu warm wurde. Die Berge waren nah, und die Kunst, sie trotz ihrer Kahlheit schön zu finden, bestand darin, dass man ihre Farben zu schätzen lernte. Diese Berge, die sich hier in der Provinz Badakhshan, in der Martens zum ersten Mal war, nicht von denen in anderen Landesteilen unterschieden, die er von früheren Reisen kannte, veränderten ihren Charakter mit dem Licht der über sie hinwegziehenden Sonne. Morgens waren sie am lebendigsten, im Erwachen zeigten sie das breiteste Spektrum ihrer Farben, sie schillerten in allen Lehmtönen, und die Schatten in den Bergfalten waren frisch und schwarz. Wenn die Sonne höher stieg, fielen die Berge in einen Schlaf, sie wurden elefantenfarben, und um die Mittagszeit standen sie eintönig da, sie schliefen im Stehen und niemand blickte mehr hin. Gegen Nachmittag, mit der fallenden Sonne, erwachten sie wieder, und nun erlebte man ein ganz anderes Farbspiel als morgens, ein reiferes, weniger grelles, es war, als hätten die Berge tagsüber etwas gelernt. Als vernünftige Wesen begaben sie sich in den Abend, auf ihren Kämmen und Gipfeln wurde das Sonnenlicht weise und still, es glänzte wie eine Erkenntnis.
Das waren die Berge.
Sonst gab es hier nicht viel.
Ein Oberfeldwebel Nolting holte Martens und Miriam am Flughafen ab. Nolting sprach mit süddeutschem Akzent und war sehr rothaarig, Sommersprossen wanderten über seine Nase. Nolting lud ihr Gepäck in den Eagle, ein gepanzertes Truppenfahrzeug, in dem sich noch zwei andere Soldaten befanden, einer bediente das Geschütz, das auf dem Wagendach montiert war, der andere war Verstärkung. Während des Einladens des Gepäcks hatte Martens sich nun endgültig davon überzeugen können, dass Miriam keine Kameratasche dabeihatte. Es gab jetzt noch die Möglichkeit, dass sie die Kameratasche in ihrem Koffer verstaut hatte, aber das hielt er für
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