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Das Leuchten in der Ferne: Roman (German Edition)

Das Leuchten in der Ferne: Roman (German Edition)

Titel: Das Leuchten in der Ferne: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linus Reichlin
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verstehen war. Martens wusste es auch so. Sie riefen: Boll! Boll! Sie wollten Bälle, Süßigkeiten. Er winkte den Kindern im Vorbeifahren zu. Da er nichts zum Schenken dabeihatte, wollte er ihnen wenigstens zeigen, dass er sie mochte. Sie führten ein so schweres Leben und waren doch so tapfer. Ihre Väter schlugen sie für die geringsten Vergehen oder auch nur, damit sie sich merkten, was ihnen gesagt worden war. Sie konnten sich einmal am Tag satt essen, aber das genügte natürlich nicht, sie waren ständig hungrig, und man konnte eine ganze Welt retten, indem man ihnen einen Riegel Schokolade schenkte. Es gab keinen schöneren, versöhnlicheren Anblick als ein afghanisches Kind, das voller Andacht Schokolade aß. Es war nicht der Krieg, der ihnen am meisten zusetzte, es war die Härte der Erziehung und der Arbeit, die sie schon früh verrichten mussten. Im Lazarett des Camps in Kunduz hatte Martens einen elfjährigen Jungen gesehen, der mit einem gebrochenen Arm drei Wochen lang auf dem Feld des Vaters bei der Melonenernte hatte mithelfen müssen. Erst als der Arm zu faulen begann, brachte der Vater ihn ins Lazarett. Dieser Junge, der unvorstellbare Schmerzen ertragen hatte und dem sein linker Arm amputiert worden war, hatte aus dem Bett in der Krankenstation zu Martens hochgeschaut mit einem Blick, der Martens beschämt hatte. Es war ein Blick aus der Tiefe des Lebens gewesen, nicht traurig, nicht anklagend, nicht um Mitleid bittend, sondern wissend und heiter. Er hatte dem Jungen, auf den als Einarmiger ein unsicheres Schicksal wartete – welcher Vater würde ihm eine Tochter zur Frau geben, wie sollte er das Feld bestellen –, seine Rolex geschenkt, und die Freude des Jungen hatte ihn noch mehr beschämt. Denn was war schon eine Uhr, wenn man nichts tun konnte, wenn man ein Kind wie dieses seinem Schicksal überlassen musste. Aber wenn man von Kindern sprach, meinte man Knaben. Mit Mädchen kam man kaum je in Kontakt, die Kinderhorden auf den Straßen bestanden fast nur aus Jungs. Die Schokolade, die Kaugummis, die Bälle, alle Geschenke kamen nur den Jungs zugute, für die Mädchen war ein Bruder, der mit ihnen teilte, das größte Glück.
    Sie näherten sich nun einer Brücke, hier war die Straße besonders schlecht, weil sich an der Brücke der ganze Verkehr konzentrierte. Jeder Eselskarren, jeder Toyota – eine andere Automarke sah man selten –, jeder Fußgänger wollte über diese Brücke, da es die einzige im weiten Umkreis war. Nolting versuchte gelassen zu wirken, aber man sah ihm dennoch an, dass die Brücke ihn nervös machte, Brücken waren in Afghanistan ein beliebter Ort, um einen Sprengsatz zu befestigen. Frauen in Burkas trugen Brennholz auf dem Rücken, es waren die ersten Frauen, die Martens in Feyzabad sah. Sie trugen ihre Last gemächlich über die Brücke, so wie überhaupt alle Einheimischen sich von der stets drohenden Gefahr, von den eigenen Leuten in die Luft gesprengt zu werden, nicht aus der Ruhe bringen ließen. Es ging um Würde. In dauernder Angst zu leben war würdelos. Man verlor die Selbstachtung, wenn man von morgens bis abends um jede Ecke spähte und bei jeder auffälligen Erdverwerfung an der Straße an eine vergrabene Bombe dachte. Nolting fuhr dicht an den Frauen vorbei über die Brücke, und als sie sie hinter sich gelassen hatten, entspannte er sich und sagte, in Deutschland soll’s heute wieder über dreißig Grad werden, und das Ende Mai! Aber hier ist’s für die Jahreszeit auch zu warm. Wegen dem Klimawandel.
    Sagen, dass es um eine Lehrerin geht
    Sie näherten sich dem Camp, das außerhalb der Stadt in ebenem Gelände lag, hier wuchsen weder Strauch noch Baum. Die Sonne berührte schon die Kämme der Berge, die 3000 Meter hoch waren und dennoch leicht wirkten, nicht so stämmig wie die alpinen Granitberge. Ein Fluss schlängelte sich über die Ebene, Martens fragte Nolting nach dem Namen.
    Kowkcheh, sagte Nolting.
    Spricht man das so aus?, fragte Miriam.
    Wir sprechen das so aus, sagte Nolting, aber wahrscheinlich ist es falsch. Wir sprechen es so aus, wie es geschrieben wird. Aber wahrscheinlich wird es auch falsch geschrieben, es ist ja eine Übersetzung in deutsche Buchstaben. Die schreiben ja hier arabisch.
    Miriam lächelte nachsichtig.
    Das Camp duckte sich im Gelände, es ging in Deckung und vertraute auf die Wachtürme, von denen aus ein sich nähernder Angreifer von Weitem schon zu erkennen war. Keine der Baracken überragte die Umfriedung, die aus

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