Das Leuchten in der Ferne: Roman (German Edition)
Erbleichen, das hektische, atemlose Flüstern. Er hatte ihr das Haar aus der Stirn gestrichen, durchaus im Bewusstsein, dass dies die erste Berührung war zwischen ihm und ihr – vielleicht wirst du dich später einmal an diesen Moment erinnern, hatte er gedacht. Ihre Stirn war kalt gewesen, und er hatte ihren Puls gefühlt, und dann hatte sie die Augen aufgeschlagen.
Es tut mir leid, sagte sie, das ist mir schon lange nicht mehr passiert.
Sie sind gefallen wie ein Kind, sagte er. Kinder wissen, wie man richtig stürzt, sonst hätte jedes ein Loch im Kopf. Ich hole Ihnen ein Glas Wasser.
Nein, nicht nötig, sagte sie, es geht schon wieder. Es ist nur der Blutdruck. Ich kenne das. Er ist bei mir zu niedrig. Wenn ich lange keinen Sport gemacht habe, wird es schlimmer. Und die Höhenluft hier …
Eine halbe Stunde später sah er sie durchs kleine Fenster seines Zimmers. Sie joggte über den Appellplatz, in einer grauen Laufhose.
Martens packte seinen Koffer aus, er legte die Bücher, die er mitgenommen hatte, auf den Tisch, nun sah das Zimmer wohnlicher aus, Bücher waren Möbelstücke. Der Spieler von Dostojewski, ein Band mit Rilke-Gedichten und der neuste Roman von Leon de Winter, und das alles werde ich nicht lesen, dachte er, außer ein paar der Gedichte. Er hatte sich vorgenommen, sich durch die Duineser Elegien zu kämpfen, das Dickicht aus bräunlichen Sträuchern, eigentlich ein Dschungel aus Unkraut, um endlich herauszufinden, wo sich der Goldene Palast befand, den es doch in diesem Dschungel geben musste. Viele hatten ihn mit eigenen Augen gesehen, es musste doch auch ihm möglich sein! Er fand die Elegien undurchdringlich weltfremd, ihm surrte der Kopf, wenn er Sätze las wie
Eines ist, die Geliebte zu singen. Ein anderes, wehe,
jenen verborgenen schuldigen Fluß-Gott des Bluts.
Er ging ihm dabei wie beim Free Jazz. Er verstand Free Jazz nicht, und der Fluss-Gott des Bluts war ihm ein Rätsel und auch die Diskrepanz zwischen den luziden, unübertroffen schönen Gedichten Rilkes und diesen anderen, in denen sich nur Worte gegenseitig zuriefen, wie schön sie waren. Aber er wollte verstehen, warum andere das liebten.
Auch eine Flasche Muscat hatte er im Gepäck, denn abends las er gern im Licht einer Kerze seine Lieblingsstellen aus den luziden Gedichten Rilkes zu einem Glas eisgekühlten Muscat, und vor jedem Schluck steckte er sich ein dünn geschnittenes Stück eines würzigen Schweizer Appenzeller-Käses in den Mund. Der süße Wein verband sich dann zu einem einzigen Genuss mit dem Käse, dem Licht der Kerze und den Zeilen
Und kommst du mich nicht in das nächtliche Haus
mit deiner Stimme verschließen,
so muß ich mich aus meinen Händen hinaus
in die Gärten des Dunkelblaus
ergießen …
Martens betrachtete den goldfarbenen Wein in der Flasche. Den Appenzeller-Käse, die Kerzen und die Eisgekühltheit würde er sich heute Abend dazudenken müssen, möglicherweise auch das Weinglas, er hielt es für unwahrscheinlich, dass es im Camp eins gab.
Er legte sich aufs Bett, die Klimaanlage rauschte. Draußen röchelte ein Lastwagenmotor. Wahrscheinlich war es ein einheimischer Wagen, der Wasser ins Lager brachte oder Gemüse für die Kantinenküche. Die deutschen Militärlastwagen klangen gesünder. Er dachte an Miriam, ihren Ohnmachtsanfall, die Geschichte mit der Lehrerin, die Lüge, für die es einleuchtende Gründe gab, die Minolta, mit der sie Porträtfotos machen wollte. Im Halbschlaf verknäuelten sich diese Gedanken, und schließlich träumte er, dass Miriam an einem Fluss stand, ein Bleistift hing an einer Schnur um ihren Hals. Sie sagte, sie warte auf den Fluss-Gott, er komme jeden Abend um sieben hier vorbei. Sie musste ihn für die New York Times zeichnen, aber Martens wusste, dass die New York Times ihr Erscheinen eingestellt hatte, weil das Papier nicht mehr gut genug gewesen war, um darauf Zeichnungen zu drucken. Er wusste, dass mit Miriam etwas nicht stimmte, dass sie etwas vor ihm verbarg. Als er sie küsste, biss sie ihm in die Zunge.
Er erwachte, seine Zunge tat ihm weh, er hatte sich im Schlaf daraufgebissen. Es war schon halb sechs. Er klopfte bei Miriam, sie war aber offenbar noch nicht vom Joggen zurück. Die Gefühle des Traums klebten noch an ihm, das Misstrauen und die Begierde, sie verloren sich erst, als er draußen vor der Baracke eine Zigarette anzündete.
Er hielt Ausschau nach Miriam. Falls sie noch joggte, würde sie bald in seinem Sichtfeld erscheinen, denn das
Weitere Kostenlose Bücher