Das Leuchten in der Ferne: Roman (German Edition)
zurückgekehrt. Aber ebenso gern hatte er sie wieder verlassen, nie hatte er es länger als zwei, drei Monate zu Hause ausgehalten. Seine Liebe zu seinem Kind war unvollkommen gewesen, zu schwach, zu rational. Lieber war er durch zerstörte Städte geeilt, lieber hatte er in ausgebrannten Schulen Deckung vor Scharfschützen gesucht, als sein Kind am ersten Schultag in die Schule zu begleiten, ein Leben mit ihm zu führen. Sein Widerwille vor der Routine, dem Alltäglichen, den kleinen Verrichtungen wie dem täglichen Zähneputzen, dem Rasieren jeden Morgen rührte vielleicht von nichts anderem her als von einem Mangel an Liebe.
Einunddreißig und neunundzwanzig, sagte Seegemann, zwei Jungs. Er drückte den Stopfer in die Pfeife, nach Mann und Leder riechende Wölkchen stiegen auf.
Lassen Sie mich raten, sagte Miriam. Der eine ist Architekt, der andere Arzt.
Ihr Glas war immer als Erstes leer. Sie trinkt mehr als ich, dachte Martens.
Falsch, sagte Seegemann. Der eine ist Arzt, und der andere ist Architekt.
Großes Gelächter.
Woher wussten Sie denn das?, fragte Nolting. Es stimmt nämlich. Oder haben Sie nur geraten? Nolting saß neben Miriam, er warf Martens einen Blick zu und schaute dann wieder nur sie an.
Nein, ich habe es in Ihren Handlinien gesehen, sagte Miriam zu Seegemann.
Aha, sagte Seegemann. Er lehnte sich gelassen im Stuhl zurück, denn er konnte sich ihrer Aufmerksamkeit sicher sein. Dann sind Sie also eine Handleserin. Dann muss ich wohl auf meine Hände besser aufpassen. Wer weiß, was Sie sonst noch alles sehen.
Zeigen Sie mal her, sagte Miriam. Geben Sie mir Ihre Hand.
Na gut, sagte Seegemann. Er legte seine Pfeife in den Aschenbecher, er war bereit, heute Abend etwas zu riskieren. Aber ich muss Sie warnen, sagte er. Falls Sie in meiner Hand militärische Geheimnisse lesen, muss ich Sie in Arrest nehmen.
Nolting lachte, und in seinem Lachen steckte dieselbe unterschwellige Anzüglichkeit wie in Seegemanns Bemerkung.
Wie in einer Schale lag Seegemanns nach oben gedrehte Hand in ihrer. Miriam zeichnete mit dem Finger eine der Linien nach. Langsam strich sie über die Linie.
Ein peinliches Schweigen entstand.
Ich sehe, sagte Miriam leise, dass Sie in Ihrem Leben jemanden belogen haben. Jemanden, den Sie nicht gut kannten. Sie machten ihm etwas vor, aber Sie hatten keine andere Wahl. Sie mussten es tun. Sie haben diesen Menschen benutzt und hintergegangen, und es tat Ihnen sehr leid. Sie hätten ihn gern um Verzeihung gebeten, aber Sie konnten das nicht tun, Sie hätten sonst ein Leben gefährdet.
Seegemann zog seine Hand zurück.
Ich bin ja für einen guten Scherz immer zu haben, sagte er. Aber ich weiß nicht, wie Sie darauf kommen, das hat nichts mit mir zu tun.
Sie haben recht, sagte Miriam, es tut mir leid. Vielleicht habe ich die falsche Hand gelesen.
Seegemann wechselte das Thema, er fragte Martens, was ihn diesmal nach Afghanistan führe, wieder ein Porträt eines Soldaten? Diesmal nicht, sagte Martens, nein, es gehe um eine Lehrerin, die hier in Feyzabad eine Mädchenschule leite.
Frau Marwat?, fragte Seegemann.
Ja, sagte Martens, Sie kennen sie?
Sogar sehr gut, sagte Seegemann. Wir unterstützen Frau Marwats Schule so gut wir können. Konkret heißt das, dass wir vor der Schule Präsenz zeigen, nicht dauernd natürlich, das wäre kontraproduktiv. Aber die Gegner der Schule sollen sehen, dass wir da sind. Diese Schule liegt mir persönlich sehr am Herzen. Wenn man sieht, wie gern diese Mädchen lernen, wie stolz sie sind, dass sie lesen und schreiben können – das gibt einem wieder Hoffnung. Die Bedeutung der Arbeit von Frau Marwat kann gar nicht überschätzt werden.
In diesem Ton sprach Seegemann weiter, und er hatte ja recht. Aber für Martens klangen seine Sätze zu sehr nach Zitaten, die Seegemann wohl gerne in der Reportage wiedergelesen hätte. Zum andern passte es Martens nicht, dass Seegemann die Lehrerin kannte, denn das machte die Geschichte überprüfbar.
Seegemann sprach von den afghanischen Frauen, in deren Hand die Zukunft des Landes liege.
Miriam trank Wein und schwieg.
Martens stimmte Seegemann zu und war auf der Hut. Er bereitete sich auf die Frage vor, die dann auch kam.
Haben Sie denn mit Frau Marwat schon Kontakt aufgenommen? Sie hat bei unserem letzten Treffen vor zwei Tagen gar nichts erwähnt.
Wir möchten die Schule gern spontan besuchen, sagte Martens. Um einen unverfälschten Eindruck zu erhalten. Wenn man als Journalist seinen Besuch
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