Das Leuchten in der Ferne: Roman (German Edition)
würden. Aber heute machte er eine Ausnahme, wie Miriam.
Sie legte die Zigarette auf die Tischkante und zog ihre Schuhe und Socken aus. Er riss kurzerhand den hinteren Einbandkarton des Dostojewski-Taschenbuchs ab und bastelte daraus einen Aschenbecher. Auch diese Handlung war für ihn untypisch, und er wunderte sich. Miriam zog ihren Pullover aus. Sie trug darunter ein weißes T-Shirt. Sie rauchte weiter, und er sagte, das mit dem Handlesen vorhin, war das ein Scherz? Ich habe es nicht ganz verstanden …
Sie schaute ihn an, mit einem Blick, den er kannte. Er war erstaunt, ihn bei ihr zu sehen. Es war der Blick, bevor etwas geschah. Er hatte ihn schon oft gesehen, in Liberia in den Augen eines jungen Rebellenführers der LURD, im Sudan bei einem Darfuri nachts am Lagerfeuer, und jedes Mal war dieser Blick die Einleitung zu einem Verrat gewesen oder Versprechen waren gebrochen und Vereinbarungen nicht eingehalten worden. Er wartete, aber sie sagte nichts. Sie zog nur ihr T-Shirt aus und legte sich auf sein Bett. Mit vor der Brust verschränkten Armen lag sie da, ihre Zigarette brannte ein Loch in den Dostojewski-Einband.
Ich weiß nicht mehr, wie man das macht, sagte sie. Und ob ich es wirklich will.
Er drückte beide Zigaretten aus und setzte sich zu ihr aufs Bett.
Komm, sagte er, setz dich neben mich.
Sie setzte sich neben ihn, und er legte den Arm um sie. Sie schmiegte sich an ihn, umfasste ihn mit beiden Armen.
Halt mich fest, sagte sie.
Das tue ich.
Lass mich nicht los, sagte sie.
Bazir
Ich möchte dir etwas erzählen, sagte sie in seinen Armen.
Ja?
Von meinem Vater.
Ja, erzähl mir von ihm.
Als er neunzehn war, sagte sie, wurde er mit seiner Cousine Sherin verheiratet, in seinem Heimatdorf Isa Khel im Jahr 1961. Sherin war schön, aber sie war in ihrer Kindheit schwer erkrankt, wahrscheinlich Kinderlähmung, und seither hinkte sie. Die Bauern in der Gegend bauten Melonen an und Reis, es war die Goldene Zeit unter König Sahir Schah. Es gab keine Kriege, und fast alle hatten genug zu essen. Aber eine hinkende Frau wollte niemand, sie war für die Feldarbeit nicht zu gebrauchen, und außerdem befürchteten die Männer, dass eine verkrüppelte Frau Krüppel zur Welt brachte. Auch mein Vater wollte Sherin nicht. Aber mein Großvater war arm, er besaß nur ein kleines Stück Land, und der Brautpreis für Sherin war gering. Sherins Vater war froh, sie loszuwerden, er verschenkte sie für eine Ziege.
Ein Jahr lang sprach mein Vater kein Wort mit Sherin. Er war intelligent, hatte sich selber Lesen und Schreiben beigebracht und wollte nach Kabul. Sein Traum war es, in Kabul ein eigenes Taxi zu kaufen und damit sein Geld zu verdienen. Nach einem Jahr brachte Sherin einen gesunden Sohn zur Welt. Dadurch stieg ihr Ansehen in der Familie meines Vaters, sie wurde jetzt als nützliches Übel angesehen. Mein Vater wechselte jetzt ab und zu ein paar Worte mit ihr, und er gab ihr mehr zu essen als vorher, damit sie gesund blieb und ihm noch mehr Söhne schenkte. Aber er verlor seinen Traum nicht aus den Augen, das Taxi in Kabul, und Sherin spielte in diesem Traum keine Rolle. Kurz darauf verletzte mein Vater sich bei der Feldarbeit, er schlug sich mit einer rostigen Hacke in den Fuß.
Miriam erzählte: Ihr Vater bekam hohes Fieber, es war eine Blutvergiftung. Diese Krankheit kannte man im Dorf und man wusste, dass die meisten daran starben. Bazir, so hieß ihr Vater, wurde von seiner Mutter und seinen Schwestern gepflegt. Um das Fieber zu senken, tauchte man ihn in den Fluss, der aber zu jener Jahreszeit, es war Sommer, nur wenig Wasser führte. Ein Dorfbewohner, der sich auf Wundheilung verstand, schnitt die Wunde auf, konnte die Blutung aber hinterher nicht stillen, sodass Bazir in jener ersten Nacht fast gestorben wäre.
Am zweiten Tag war er nicht mehr ansprechbar, alle bereiteten sich auf seinen Tod vor. Man hatte zwar seinen jüngeren Bruder Gul Baz nach Kunduz geschickt, um dort Medikamente zu kaufen, aber niemand glaubte, dass Gul Baz rechtzeitig zurückkehren würde. Sherin saß an der Feuerstelle und kochte etwas, man hatte in der Aufregung nicht auf sie geachtet. Sie bat ihren Schwiegervater um Erlaubnis, Bazir von dem Gebräu, das sie zubereitet hatte, zu trinken zu geben. Der Schwiegervater erlaubte es.
Von nun an flößte Sherin Bazir drei Tage lang jede Stunde einen Schluck von dem Gebräu ein. Am vierten Tag, als Gul Baz mit dem Medikament aus Kunduz zurückkehrte, war Bazirs Stirn wieder
Weitere Kostenlose Bücher