Das Leuchten in der Ferne: Roman (German Edition)
Miriam.
Er will, dass wir zum Haus gehen und uns an der Mauer hinsetzen. Wir dürfen das Haus nicht betreten, sagte sie.
Er will nicht, dass du zuhörst, wie er die anderen belügt, sagte Martens.
Das ist mir egal, sagte sie. Sie ließ den Gesichtsschleier fallen, und er sah, dass sie weiß war wie der Schneerest, der an der Schattenseite des Hauses der Gebirgssonne trotzte. Sie hakte sich bei ihm unter, Schritt für Schritt stiegen sie die Anhöhe hinauf, auf der das Haus stand. Einen Weg gab es nicht, überall lagen große Felsbrocken. Das Haus wurde nicht dauerhaft bewohnt, sonst wären die Steine weggeräumt worden.
Ich schaffe es nicht, sagte Miriam. Sie blieb stehen, das Haus war noch einige Meter entfernt. Ich kann da nicht hingehen.
Dann setzen wir uns hier, sagte Martens.
Es war ein Stein, geeignet für ein Paar, das nebeneinandersitzen wollte. Er legte den Arm um Miriam, aber sie sagte, nein, das ist nicht gut, sie können uns sehen.
Du hast recht, sagte er und küsste sie.
Hör auf damit!, sagte sie. Sie setzte sich von ihm weg auf einen anderen Stein.
Die Sonne brannte ein Loch durch die kalte Luft. Es war eine präzise Sonne, sie zielte auf alles, das sich nicht im Schatten befand. Sie vermochte die Luft nicht zu erwärmen, aber ein Gesicht schon, bis hin zum Sonnenbrand. Martens zog seine Wetterjacke aus, dann den Pullover, den er sich um den Kopf legte als Behelfsmütze. Miriam saß auf dem anderen Stein in ihrem Anorak. Sie wollte allein sein, und sie war es auch, er konnte ihr nicht helfen.
Gestern Nacht, als sie im Wagen gesessen hatten und sie ihm von ihrem Vater erzählt hatte und dass Dilawar Barozai ihr Halbbruder war, und dass sie hier war, um Evren freizukaufen, der den Leichnam ihres Vaters nach Isa Khel gebracht hatte und der noch vor dem Begräbnis von Dilawar entführt worden war – nachdem sie ihm das gestanden hatte, hatte sie gesagt, ich bin froh, dass du so ruhig bleibst und mir keine Vorwürfe machst, wirklich, ich bin dir dankbar dafür.
Aber?, hatte er gefragt.
Aber es macht mir auch Angst, hatte sie gesagt, und er hatte gefragt, Angst wovor?
Dass ich mich in einen Abenteurer verliebe, hatte sie gesagt.
Was ist so schlimm an einem Abenteurer?, hatte er gefragt.
Dass er nicht da ist, wenn ich drei schwere Einkaufstüten in den vierten Stock hochtragen muss, hatte sie gesagt. Dass es ihm nicht abenteuerlich genug ist, sich mit mir darüber zu freuen, wenn Sinan in der Badewanne herausfinden will, ob ein Apfelbonbon schwimmt. Dass er nicht erwachsen werden will.
Nicht sesshaft, hatte Martens geantwortet, das ist etwas anderes, und sie hatte gesagt, nein, das ist genau dasselbe.
Sie saß auf dem Stein, auf ihrem Stein, und sie zog ihren Anorak jetzt doch aus und legte ihn sich über die Knie.
Wie merkwürdig, dass es ihm nichts ausmachte: Sie hatte ihn angelogen, hatte ihn unter einem falschen Vorwand hierhergelockt. Gab es die Bacha Posh überhaupt? Er hatte sie noch gar nicht danach gefragt, es war ihm ebenfalls nicht wichtig. Miriam war hier, um ihren früheren Mann freizukaufen, und ich bin hier, dachte Martens, weil ich erwachsen bin. Miriam irrte sich: Er war erwachsen. Erwachsen sein, was hieß das anderes, als selbstbestimmt zu leben. Und Selbstbestimmung bedeutete, sich frei entscheiden zu können. Wäre er nicht erwachsen gewesen, hätte er es ihr sehr übel genommen, dass sie ihn über die wahren Beweggründe ihrer Reise belogen und in eine gefährliche Lage gebracht hatte. Er nahm es ihr nicht übel, weil er diese Art Leben vor langer Zeit gewählt hatte, er hatte sich für das Risiko entschieden, und er war in der Lage gewesen, diese Entscheidung zu treffen, weil er über sich selbst Bescheid gewusst hatte. Sie hatte ihn belogen, na und? Es machte sein Leben nur interessanter. Er war hier, weil er diesen Zustand liebte: nicht zu wissen, was als Nächstes passiert.
Nach Hause fahren
Miriam stand von ihrem Stein auf, der Anorak fiel zu Boden. Sie lief ein paar Schritte, dann stützte sie sich mit beiden Armen auf einen der Felsbrocken. Sie kniete sich hin, und Martens hörte, wie sie sich übergab.
Er ging zu ihr und gab ihr aus der Plastikflasche zu trinken, die er heute Morgen vor dem Abmarsch am Fluss gefüllt hatte.
Sie trank und kehrte mit ihm zu den Sitzsteinen zurück. Es gab hier zahllose Steine, auf die man sich hätte setzen können, aber sie setzten sich auf die, die sie schon kannten.
Glaubst du, dass Evren da drin ist? In dem Haus?, fragte
Weitere Kostenlose Bücher