Das Leuchten in der Ferne: Roman (German Edition)
miteinander, wie immer, wenn sie allein waren. Das ist meine Heimat, sagte Bazir, hier neben ihr. Aber sie lassen es nicht zu, ich habe mich bei der Jüdischen Gemeinde erkundigt. Aber wenn ich nicht bei ihr liegen kann, will ich auch nirgendwo sonst in diesem Land liegen. Papa, sagte Miriam, darüber können wir in zwanzig Jahren reden, aber Bazir sagte, darüber müssen wir jetzt reden. Er drückte ihr die Visitenkarte eines Bestattungsunternehmens in die Hand, das Muslime in ihre Heimat zurückbrachte, wenn es Zeit war. Wenn es so weit ist, sagte Bazir, rufst du diese Nummer an. Ich habe alles schon mit ihnen besprochen. Auch die Kosten, du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Ich möchte in Isa Khel begraben werden. Ich weiß, dass meine Brüder noch leben, Mirzal und Dagar. Sie werden mich nicht gerne in Isa Khel sehen, auch nicht, wenn meine Sohlen den Boden nicht mehr berühren. Aber sie können nichts tun, sie müssen es akzeptieren.
Und dann starb mein Vater, sagte Miriam. In der U-Bahn, als er unterwegs war in die Hofpfisterei an der Nollendorfstraße. Er kaufte dort jeden Morgen zwei Butterbrezel, er liebte die. Die Fahrt war für ihn etwas so Alltägliches, sie gehörte zu seinem Leben. Und jetzt starb er während dieser Fahrt. Er hatte einen Infarkt. Es muss ein ganz stiller Tod gewesen sein. Niemand merkte etwas. Drei Stunden lang fuhr mein Vater tot in der U1 hin und her, bis eine Studentin merkte, dass seine Augen offen standen.
Miriam sprach erst nach einer Weile weiter, sie sagte, er wollte in Isa Khel begraben werden, in seiner Heimat, es war sein letzter Wunsch. Ich sprach mit denen vom Bestattungsunternehmen. Sie sagten, mein Vater habe alles schon bezahlt, den Flug, den Transport von Kunduz nach Isa Khel. Und er hatte einen Brief hinterlegt, für mich. Er hatte alles vorausgesehen. Er wusste, dass ich es nicht übers Herz bringen würde, ihn allein nach Afghanistan fliegen zu lassen. Mein Vater allein im Sarg, nur Fremde um ihn herum, die nur hier waren, weil es ihr Job war, und denen er nichts bedeutete. Er war für sie nur ein Toter, den sie irgendwohin bringen mussten. Ich hatte ihn geliebt, ich konnte ihn doch nicht allein dorthin reisen lassen. Der Gedanke, dass niemand, der ihn geliebt hat, dabei ist, wenn sie ihn ins Grab legen. Dass da nur Leute sind, die ihn hassen, seine Brüder, die ihm nie verziehen haben, dass er wegen Sherin einen seiner Brüder getötet hat. Sinan hat seinen Opa so geliebt, ich habe ihn geliebt, und Evren, mein früherer Mann, für ihn war er ein wirklich guter Freund. Und nun sollten alle, die ihn geliebt hatten, bei seiner Beerdigung fehlen? Aber andererseits musste ich seinen Willen respektieren. In seinem Brief nahm er mir das Versprechen ab, ihn nicht zu begleiten. Er wollte, dass Evren ihn begleitet, weil er dachte, dass Evren als Muslim von der Familie akzeptiert wird und ihm keine Gefahr droht. Er beschwor mich, nicht selbst nach Isa Khel zu fahren, er hatte Angst um mein Leben, vor allem wegen seines Sohns. Er und Sherin hatten einen Sohn, das habe ich dir ja neulich erzählt. Mein Vater hatte in all den Jahren nichts von seinem Sohn gehört. Er wusste nur, dass er in der Familie eines Onkels meines Vaters aufgewachsen war. Aber vor zwei Jahren rief mein Vater mich an, spät am Abend. Ich weiß noch, ich stand im Wohnzimmer am Fenster, und der Mond war besonders grell, er blendete einen. Ich war gerade von Dorles Geburtstagsparty zurückgekommen, und ich war in einer Stimmung, als müsste das Fest noch weitergehen. Es war sehr schön gewesen, wir hatten Karaoke gesungen, guten Wein getrunken, es war so ein besonderer Zauber gewesen an dem Fest. Und jetzt noch dieser grelle, unwirkliche Mond, ich konnte zuerst gar nicht glauben, was mein Vater mir erzählte. Er sagte, ich habe Dilawar gesehen. Meinen Sohn Dilawar.
Das Gesicht der Mutter
Sie erzählte, ihr Vater habe nach seiner Pensionierung jeden Morgen vor dem Computer die zwei Butterbrezeln aus der Hofpfisterei gegessen und im Internet die neusten Nachrichten aus Afghanistan gelesen. Er habe sich auf allen möglichen Kanälen informiert, auch auf paschtunischen Seiten, auf denen Propagandavideos der Taliban gezeigt wurden. An jenem Tag habe er auf einer solchen Seite ein Video gesehen, in dem die Gefangennahme zweier britischer Journalisten gezeigt worden sei.
Bazir Khalili schickte seiner Tochter per Mail den Link, und sie schaute sich das Video an. Die Journalisten knieten mit auf dem Rücken
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