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Das Leuchten in der Ferne: Roman (German Edition)

Das Leuchten in der Ferne: Roman (German Edition)

Titel: Das Leuchten in der Ferne: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linus Reichlin
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zusammengebundenen Händen vor einer Wand, an der die Talibanfahne hing. Einige Männer mit vermummten Gesichtern richteten die Mündung ihrer Gewehre auf die Journalisten. Einer der Männer aber zeigte sein Gesicht. In sanftem Ton, wohl beeinflusst durch das abgeklärte Gehabe Osama bin Ladens, erklärte er, die Journalisten seien Spione der Amerikaner. Er nannte seinen Namen, Dilawar Barozai, und er verhöhnte andere Talibanführer, die er bezichtigte, sie hätten sich von der Regierung in Kabul kaufen lassen und würden für amerikanisches Geld um Frieden winseln. Danach zog er ein Messer, riss den Kopf des einen Journalisten nach hinten und trennte ihn von den Schultern.
    Mein Vater, sagte Miriam, war überzeugt, dass er auf diesem Video seinen Sohn gesehen hatte, seinen und Sherins Sohn.
    Und du?, fragte Martens.
    Ich sagte ihm, dass er seinen Sohn zuletzt gesehen hat, als der ein Jahr alt war. Und dass es genauso gut auch andere geben kann, die Dilawar Barozai heißen.
    Ich habe in seinem Gesicht seine Mutter gesehen, sagte Bazir. Und er heißt Barozai wie mein Onkel, in dessen Haus er aufgewachsen ist. Und er heißt Dilawar wie mein Sohn.
    Ich konnte ihn nicht davon abbringen, sagte Miriam. Er war überzeugt, dass der Mann auf dem Video sein Sohn Dilawar war. Er kopierte das Video und schaute es sich immer wieder an. Er ließ im Fotogeschäft Vergrößerungen herstellen und legte die Fotos vor mir auf den Tisch. Wenn ich in dieses Gesicht schaue, sagte er, sehe ich meine Frau Sherin. Er sagte, Sherin habe ein bisschen geschielt, und der Mann auf dem Foto schielte tatsächlich auch ein bisschen, aber das war doch kein Beweis. Als ich ihm sagte, dass er Sherin seit fünfzig Jahren nicht mehr gesehen habe und dass seine Erinnerung an sie vielleicht nicht mehr so zuverlässig sei, wurde er wütend. Er zerriss die Fotos und warf mir die Schnipsel ins Gesicht. Das war das erste Mal, dass ich ihn so erlebte. So zornig und unbeherrscht. Ich konnte mir plötzlich vorstellen, dass er seinen Bruder tatsächlich getötet hatte. Ich wusste natürlich, dass er es getan hatte, aber jetzt traute ich es ihm wirklich zu. Das war eine schlimme Zeit für uns. Wir stritten uns jedes Mal, wenn wir uns trafen. Er ging mit Sinan auch nicht mehr so liebevoll um wie früher. Einmal, bei einem Abendessen, sagte er, ob mir eigentlich noch nie aufgefallen sei, dass Sinan abstehende Ohren habe, wie er? Und dass auch Dilawar diese Ohren habe. Verstehst du, er hat versucht, meinem Sohn eine Verwandtschaft mit irgendeinem Verbrecher anzudichten, der anderen die Hälse durchschneidet, so wie er es mit seinem Bruder getan hat! An dem Abend habe ich die Beherrschung verloren. Ich habe meinem Vater den Teller weggezogen, und er stand auf und ging und knallte die Tür zu.
    Gib mir eine Zigarette, sagte Miriam.
    Martens hatte noch eine. Er brach sie in der Mitte entzwei, und sie rauchten. Die Lüftung rauschte und führte die warme Abluft des Motors in die Fahrerkabine. Hinter der Windschutzscheibe, in großer Entfernung, funkelten die Sterne, die, die nicht verdeckt wurden von den Bergrücken und vom Dach des Wagens. Es war der schmale Streifen Sterne, der im Zwischenraum leuchtete.
    Aber leider hatte mein Vater recht, sagte sie.

IV | Hochebene

Bach
    Der Pfad war unfreundlich. Steil und heimtückisch, nicht breiter als eine Elle, er wartete auf einen falschen Schritt, er drohte mit dem Fluss in der Tiefe. Ein kalter Regen machte die Steine zu Fischhaut, man musste vorausschauend gehen, jeden Schritt planen. Wolken schlichen um die Bergflanken herum, Nebel zogen vorbei. Die Luft roch nach sich selbst, nichts verströmte hier einen Geruch, kein Strauch, kein Tier, es gab nur Steine und Nässe.
    Chargul ging voran in Turnschuhen. Zum Schutz vor dem Regen trug er eine Decke über den Schultern, er trug den Regen in dieser Decke mit sich. Miriam in ihrem Anorak, darunter der schwarze Tschador, dessen Saum schmutzig geworden war in den Pfützen. Es war kalt, dennoch schwitzte Martens unter seinem Mohair-Pullover und der Wetterjacke. Und was war das für eine Landschaft! Gott hatte anderswo Schönes gebaut und den Schutt hier abgelagert. Chargul, dem dieses Gelände Heimat war, schlug ein schnelles Tempo an. Miriam folgte ihm mühelos, aber Martens musste kämpfen, um mit den beiden Schritt zu halten, kein Wunder, dachte er, du bist der Fetteste hier. Die zehn Kilo zu viel waren in Berlin ein ästhetisches Problem gewesen, aber hier waren sie ein

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