Das Leuchten in der Ferne: Roman (German Edition)
erwähnt. Einige Tage danach hatte Martens in der Bravo die Fotos von Jagger in diesem indischen Faltenhemd gesehen und das Zitat gelesen, He hath awakened from the dream of life. Aber es hatte ihn nicht getröstet, es war nur Blendwerk, der Tod war unausweichlich. Wenn sogar Brian Jones sterben musste, um wie viel mehr dann er, ein Gymnasiast mit schlechtem Notendurchschnitt. Mit Brian Jones hatte es begonnen, und es gab Anzeichen dafür, dass es nun hier in den Bergen von Badakhshan endete, zwischen dem Swimmingpool und diesen Bergen bestand eine direkte Linie, es schloss sich kein Kreis, es führte eine Linie von A ins Leere.
Ein lauer Wind kam auf, feuchter Wind, der nach Erde roch. Über die Berghänge zogen Schatten, sie eilten zu den Gipfeln, überquerten sie und verschwanden. Wolken glitten heran, um neue Schatten zu erzeugen.
Martens stand an der Felskante, blickte hinunter in den Abgrund, er wusste, was er zu tun hatte.
Er war der Ungebundene.
Er war der, auf den zu Hause niemand wartete, der Abenteurer, in den zu verlieben man sich hütete. Es gab natürlich Menschen, die seinen Tod betrauern würden, Sandra, Nives, Lukas, mit dem ihn eine enge Freundschaft verband, die sich aber kaum noch praktizieren ließ, seit Lukas Julia kennengelernt hatte, die es nicht mochte, wenn er abends zu lange wegblieb und nach Bier und Rauch roch, wenn er heimkam. Sie war fünfzehn Jahre jünger als Lukas und ein Körpermensch, Schwimmen, Yoga, Inlineskaten, sie aß komplizierte Salate. Und wer noch?, dachte Martens, es waren ja erst drei Finger einer Hand. Hildchen, seine Mutter, und Jonas, sein Bruder, machten die Hand voll. Er sah die beiden zwar nur zu den Feiertagen, aber das waren immer sehr schöne Treffen, man wärmte sich an den Erinnerungen: Hildchen streckte beide Hände aus, und wenn jeder ihrer Söhne eine ergriff, schloss sie die Augen und nickte.
Der sechste Finger stand für Miriam. Er drehte sich zu ihr um und sah sie in einer Umarmung mit Evren. Vielleicht liebte Miriam ihn wirklich immer noch, auf eine der vielen Arten der Liebe. Die widerwärtige Art, die Evren hier an den Tag legte, konnte ja unmöglich alles sein, was er zu bieten hatte, sonst wäre sie nicht so lange mit ihm zusammen gewesen und hätte kein Wunschkind mit ihm gezeugt. Drei Monate Gefangenschaft hatten das Schlechteste aus ihm herausgeholt, aber jetzt, in Miriams Armen, weinte er, über sein verwildertes Gesicht flossen Tränen, aber vor allem: Auf ihn wartete ein kleiner Junge. Das Blut allein macht lange noch den Vater nicht, und vielleicht sah das eines Tages auch Sinan so, wenn er älter wurde. Aber jetzt wollte er einfach seinen Papa zurückhaben, auch bedingungslose Liebe musste man ernst nehmen.
Dreh dich nur einmal nach mir um, dachte Martens, aber sein Wunsch ging nicht in Erfüllung, Miriam verschwand in der Umarmung.
Malalai – nein, Pason, dachte Martens – hockte auf den Fersen, das Gewehr zwischen den Knien, und als ihre Blicke sich begegneten, stand sie auf, ging ein paar Schritte weg und hockte sich wieder hin. Martens ging trotzdem zu ihr. Sie stand wieder auf, was willst du, lass mich in Ruhe. Du und ich, dachte Martens, sind hier die Einzigen, auf die zu Hause niemand wartet.
Woher kommst du?, fragte er sie.
Aus Feyzabad, sagte sie widerwillig.
Und dein Vater hat dort eine Autowerkstatt, dachte Martens. Er hat dich als Junge erzogen, du hast ihm in der Werkstatt geholfen, hast Reifen über den Hof gerollt, hast Ersatzteile abgeholt, Drosselklappen … er kannte das englische Wort für Drosselklappe nicht.
In Deutschland, wo ich wohne, sagte er, habe ich ein Auto. Es fährt nicht mehr gut, der Motor geht manchmal während der Fahrt aus. Kennst du dich mit Autos aus?
Ja, sagte sie.
Hab keine Angst, sagte er.
Sie nickte.
Mein Auto fährt an manchen Tagen ganz normal, sagte er. Aber an anderen Tagen beginnt der Motor während der Fahrt zu ruckeln. Ich drücke aufs Gaspedal, aber trotzdem geht der Motor aus. Manchmal fährt das Auto aber auch plötzlich ganz von allein. Ich drücke nicht aufs Gaspedal, aber das Auto fährt und wird immer schneller. Hast du eine Ahnung, woran das liegen könnte?
Sie schaute ihn an.
Was könnte da kaputt sein?, sagte er.
Was ist es für ein Auto?, fragte sie.
Ein Renault. Ein französisches Auto.
Ist es ein Toyota?, fragte sie.
Nein, ein Renault.
Ich weiß nicht, warum es kaputt ist, sagte sie. Du musst es in eine Werkstatt bringen. Dann reparieren sie es.
Ja, ich
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