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Das Leuchten in der Ferne: Roman (German Edition)

Das Leuchten in der Ferne: Roman (German Edition)

Titel: Das Leuchten in der Ferne: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linus Reichlin
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einfach robuster. Er hatte in seiner Kindheit nie Hunger gelitten, diese Männer schon, und er war von Natur aus kräftiger, germanisches Körpermaterial. Selbst als Übergewichtiger mit geringer Kondition kam er mit dem Gewicht dieses Steins besser zurecht als die schmächtigeren Paschtunen.
    Omar stand der erste Wurf zu, und so nahm er Martens den Stein aus den Händen. Es bereitete ihm schon Mühe, den Stein zu halten. Die übliche Technik, den Stein mit beiden Händen vor die Brust zu stemmen und ihn dann in der Art eines Volleyballs von sich wegzustoßen, kam nicht infrage. Omar wandte also eine andere Technik an. Er stellte sich breitbeinig hin und gab dem Gewicht des Steins nach, indem er ihn mit lockeren Armen zwischen den Beinen hin und her schwang und im Moment des größten Schwungs mit einem Ah! von sich warf. Der Stein flog weiter, als Martens erwartet hatte, eine und eine halbe Körperlänge.
    Omar strich sich die Haare aus dem Gesicht, er war sehr zufrieden und warf Martens einen leuchtenden Blick zu.
    Einer der anderen Männer, er hieß Mirwais, kratzte mit dem Fuß die Markierung in den Boden und hob den Stein auf. Er versuchte es mit derselben Technik wie Omar, aber nach zweimal Schwungholen wurde ihm der Stein zu schwer, er plumpste kaum eine Armlänge von Mirwais entfernt auf den Boden. Mirwais machte eine Geste, tja, was kann man da machen, so ist das Leben, Brüder.
    Den zwei anderen ging es nicht besser. Dann war Martens an der Reihe. Er stemmte den Stein bis unter sein Kinn, er hatte bisher immer mit der Stoß-Technik gewonnen. Aber nun merkte er, dass er diesen Stein unmöglich so weit würde stoßen können, wie Omar ihn geschwungen hatte. Obwohl er es wusste, zögerte er einen Moment und verlor Kraft, sie entwich aus seinen Armen wie durch ein Leck. Als er die Arme fallen ließ, um den Stein zu schwingen, fehlte ihm genau das Quantum Kraft, das er durch sein Zögern verloren hatte. Er warf den Stein zu kurz.
    Die eigene Kraft
    Als die Sonne unterging, lag ihnen das Essen im Magen, Fleisch hatte sich in Eisen verwandelt, Reis in Stein. Der Wind verwirbelte den Geruch von Erbrochenem mit dem des Rauchs. Aber keiner bereute, es war wunderbar gewesen zu essen, ohne dass der Topf leer wurde. Und hier war es selbst nachts noch so warm, dass man nur auf der Haut fror und nicht auf den Knochen. Die Sterne standen so dicht, eine Versammlung von fernen Sonnen, jede glühte mit der anderen um die Wette, sie zitterten dabei. Martens lag unter ihnen, und er vermisste nichts außer Wein. Er hatte so lange keinen Wein mehr getrunken, und es machte ihn nicht zu einem Menschen, der von sich sagen konnte, seit ich keinen Alkohol mehr trinke, geht es mir einfach besser. Das beruhigte ihn, es war der Beweis, dass er Alkohol nicht brauchte, sondern nur schätzte. Er schätzte ihn allerdings sehr, und dass da unten, ganz in der Nähe, ein Dorf war, in dem man Lämmer, Reis und Esel geschenkt bekam, wenn man bewaffnet war, aber keinen Wein, und dass es darüber hinaus im ganzen Land keinen Wein zu kaufen gab und selbst in der Hauptstadt nur unter erschwerten Bedingungen – das machte ihm Afghanistan fremd. Wenn man aber im Dorf hätte Wein kaufen können – wer weiß, dann hätte er es möglicherweise anders gesehen. In Liberia, in Jugoslawien, in Ruanda hatte es, bei aller Fremdartigkeit, doch diese universale Gemeinsamkeit gegeben: Man hatte sich beim Trinken zusammengefunden. In Liberia hatte er Cognac getrunken mit einem Rebellenführer der LURD, in Ruanda süßliches Bier mit den Hutu-Burschen, die erschöpft vom Töten gewesen waren, und in Tuzla hatte er in der von einer Granate aufgerissenen Wohnung eines serbischen Taxifahrers, der Milanko hieß, eine Flasche Sliwowitz getrunken, mit Milanko und Lützow, dem Fotografen. Milanko hatte als einer der wenigen in Tuzla mit den Nationalisten sympathisiert, aber der Sliwowitz hatte Martens und Lützow die Gegenwart Milankos erträglich gemacht und zweifellos umgekehrt auch. Ein Tisch, eine Flasche, zwei Gläser – in ganz Afghanistan, dachte Martens, gibt es das nicht, niemand sitzt hier abends draußen vor einer Kneipe und lässt sich mit Freunden volllaufen. Keinem von Kandahar im Süden bis hier nach Badakhshan im Nordosten löste sich die Zunge, keiner legte sein Herz auf den Tisch und verriet seinen Freunden die kleinen persönlichen Geheimnisse, die offenbart zu haben man am nächsten Tag bereute – aber es hatte trotzdem gutgetan, es einmal

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