Das Leuchten
zusammen, und ich merkte, dass ich sehen konnte, was ich hörte.«
»Und was hast du dann gemacht?«
»Nichts. Ich lag mit geschlossenen Augen im Bett«, erwiderte ich und erinnerte mich plötzlich wieder an jede Kleinigkeit, die an besagtem Morgen passiert war. »Mum rief mich zum Frühstück. Als ich ihr antwortete, hörte ich, wie meine Stimme von einer Wand zur anderen sprang. Und dann merkte ich, dass ich mein Zimmer sehen konnte, ohne die Augen aufzumachen.«
»Überirdisch!«
»Nein. Das war eher unheimlich.«
»Hast du es deinen Eltern gesagt?«
Ich zögerte. Wollte ich wirklich noch weiter in diese Erinnerungen eintauchen? Nein, nicht mal mit der kleinen Zehe.
»Ja«, gab ich dann schließlich doch zu. »Ich habe es ihnen gesagt.«
Ich versuchte, eine andere Tür zu öffnen, aber sie war ebenfalls verschlossen. Als ich mich umdrehte, stand Gemma wieder da und versperrte mir den Weg.
»Und?«, fragte sie weiter.
»Sie haben mich nach oben gezerrt und mich zu einer Reihe von Ärzten geschleppt.« Meine Kehle war wie zugeschnürt. »Wochenlang untersuchten sie mein Blut und vermaßen mein Gehirn, konnten aber nichts Außergewöhnliches feststellen. Trotzdem wollten sie nicht aufhören, an mir herumzupiksen.« Das war noch harmlos ausgedrückt. »Im Krankenhaus wollte man mich nicht fortlassen, und dann hat sich auch noch das Jugendamt eingeschaltet. Meine Eltern mussten vor Gericht erzwingen, dass ich wieder nach Hause durfte. Eine Zeit lang sah es fast so aus, als würde sich der Richter gegen sie entscheiden und mich unter staatliche Vormundschaft stellen. Also behauptete ich einfach, ich hätte meine besondere Fähigkeit verloren.«
»Und die Ärzte haben dir geglaubt?«
»Wahrscheinlich nicht. Aber sie konnten mir nichts nachweisen. Wenn ich mein Sonar einsetze, lassen sich Aktivitäten in einem Teil meines Gehirns messen, den die meisten Menschen gar nicht nutzen. Wenn ich meine Fähigkeit nicht nutze, ist dort auch keine Aktivität feststellbar. Die Ärzte konnten keinen Grund finden, mich länger dazubehalten. Zum Glück tauchte mein wirklicher Name nie in den Akten auf. Den Arzt, der den Artikel geschrieben hat, von dem du immer sprichs t – Doktor Metzge r –, habe ich nie getroffen. Er hatte von der Gerichtsverhandlung gehört und sich dann alle Fakten aus den Akten des Krankenhauses besorgt. Meine Eltern waren stinksauer darüber.«
»Aber sie kennen die Wahrheit, oder? Dass du es noch immer kannst.«
Ich drehte mich um und versuchte, eine andere Tür zu öffnen. Der Knauf ließ sich drehen, doch die Tür klemmte.
»Du hast deine Eltern angelogen?«
Ich warf mich mit meinem ganzen Gewicht gegen die Tür und sie fiel krachend aus ihren verrosteten Angeln. Als das Wasser an mir vorbei in den Raum schoss, verlor ich fast das Gleichgewicht.
Statt den Strahl der Lampe in den dunklen Raum zu richten, leuchtete Gemma wieder nur mich an. »Ich verstehe. Du willst kein Versuchskaninchen sein, abe r …«
»Kein Aber!«, fuhr ich sie an. »Die Ärzte geben dem Wasserdruck die Schuld. Sie sagen, er bringt mein Gehirn durcheinander. Sie haben meinen Eltern geraten, für immer nach oben zu ziehen. Aber ich habe ja gesehen, wie ihr leb t – wie die Schleimaale, einer auf dem anderen. Da ist mir ein krankes Hirn tausendmal lieber.«
»Aber es sind doch deine Eltern!«
»Schweigen ist nicht lügen.«
»Wie alt bist du? Sechs? Natürlich ist es das!« Entrüstet betrat sie den Raum.
»Gut, dass du so genau weißt, was richtig ist und was nicht«, spottete ich. »Lügen ist schlecht, aber Stehlen ist nur ein netter Trick, den dir dein Bruder beigebracht hat.«
Sie drehte mir den Rücken zu, sah sich mit der Taschenlampe in dem Raum vor uns um und beendete damit das Gespräch. Zu blöd, dass es überhaupt so weit gekommen war.
Ich folgte ihr, vorbei an den Etagenbetten, die sich an der Wand entlangreihten. Die meisten hatten keine Matratzen mehr, aber Bettdecken und Laken hingen zwischen den Gitterstäben herab wie Wäsche, die man im Dunkeln zum Trocknen aufgehängt hatte. Der Lichtstrahl wanderte über die Poster an der Wand. Ein Bild von einem Parasegler. Zeichnungen aus einem Comicheft. Das Foto eines lachenden Mädchens mit rotblonden Haaren und Zahnlücke.
Die Last des Ozeans drückte die Metallwände zusammen und ließ sie knarren und ächzen.
»Lass uns von hier verschwinden. Hier drin finde ich nichts, was uns weiterhelfen würde.«
Gemma wandte mir immer noch den Rücken zu und
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