Das Leuchten
richtete den Lichtstrahl erneut auf das Foto neben einem der oberen Betten. Sie trat näher, um es besser betrachten zu können.
»Wahrscheinlich die Tochter eines der Gefangenen«, mutmaßte ich.
Sie drückte mir die Lampe in die Hand und kletterte auf das oberste Bett. Vorsichtig zupfte sie am Klebestreifen, der das Bild festhielt. Ihre Bewegungen waren fahrig, wie im Fieber. Was hatte sie vor? Als sie die letzte Ecke des Fotos von der Wand löste, ging ihr Atem stoßweise.
»Das bist du!«, rief ich, und plötzlich verstand ich. Sie wiegte das Foto in beiden Händen. »Warum hast du mir nicht gesagt, dass dein Bruder im Gefängnis war?«
»Kapierst du es denn nicht?« Ihre Stimme versagte. »Das war kein Gefängnis.«
Ich leuchtete noch einmal mit der Lampe über die Poster, und endlich begriff ich, was sie meinte. Parasegler und Comicfiguren. Das waren keine Bilder, die erwachsene Männer neben ihren Betten aufhängten, erst recht keine abgebrühten Verbrecher.
»Es war ein Erziehungsheim!«, stieß ich hervor. Jetzt wusste ich, woher Eel den Schein hatte. Und auch Pretty. Für sie waren die Handschellen gedacht gewesen. Sie waren es, die nach Manganknollen geschürft hatten.
Als die Wände knirschten, ging es mir durch Mark und Bein. Plötzlich fiel mir ein, dass der Doc die Gefangenen von Seablite persönlich gekannt hatte. Er war für ihre Gesundheit verantwortlich gewesen. Vergangene Nacht, als er uns erzählt hatte, wie die Verbrecher entkommen waren, hatte er genau gewusst, dass die Burschen damals noch Kinder gewesen waren. Jünger als ich. Aber er hatte uns im Glauben gelassen, es seien erwachsene Männer gewesen. Er hatte Seablite ein Gefängnis genann t – obwohl niemand Dreizehnjährige in ein Gefängnis steckte. Oder etwa doch?
»Ich verstehe das nicht.« Krampfhaft überlegte ich, wieso der Doc die Wahrheit verdreht hatte. »Weshalb zwang die Regierung Kinder, hier unten zu leben?«
Gemmas Miene verhärtete sich. »Platz ist kostbar.« Sie zog die Beine an und kauerte sich auf das oberste Bett, ihr langer Zopf lag wie ein Kragen um ihren Hals. »Der Staat verschwendet keinen Quadratzentimeter an jugendliche Straftäter.«
»Dein Bruder war vier Jahre lang in diesem Gefängnis?« Ich sah mich in dem trostlosen Raum um und empfand Mitleid für die Seablite-Gang. Kein Wunder, dass sie Versorgungsschiffe überfielen. Wenn man mich hier eingesperrt hätte, wäre ich auch stinksauer auf die Regierung.
Gemma legte den Kopf auf die Knie, als wollte sie meine Frage aus ihren Gedanken verbannen. Oder vielleicht wollte sie das Naheliegende schlichtweg nicht akzeptieren: dass Richard auch in der Seablite-Gang war. Fröstelnd schlang sie die Arme um die Beine. Ihr Taucheranzug schützte sie nicht richtig, denn er war ihr zu weit, aber die kühle Luft war nicht schuld daran, dass sie zitterte.
Ich ging zu ihr. »Ist alles in Ordnung mit dir?«
Sie schüttelte den Kopf.
Vielleicht wüsste ein Topsider, was er jetzt sagen sollte. Aber ich stand nur da, fühlte mich aufgeschmissen und nutzlos, und überlegte, ob ich ihr die Hand auf den Arm legen sollte oder ob sie das missverstehen würde.
»Bitte«, flüsterte sie, ohne aufzublicken, »lass mich einfach allein.«
19
Meine Augen brannten, als ich den dunklen, überfluteten Korridor auf der ersten Etage des Gefängnisses entlangschwamm. Gemma dachte sicher, es sei mir gleichgültig, dass es ihr schlecht ging. Und das war schlimmer, als wenn sie die Wahrheit gekannt hätte: dass ich einfach dumm war.
Ich kam auf dem Boden auf und löste eine Schlammwolke aus. Eine Tür stand leicht offen. Ich wollte Gemma jetzt nicht stören, daher beschloss ich, mich allein weiter umzusehen. Ich zwängte mich durch die Tür, aber noch bevor ich einen Blick in den Raum werfen konnte, stieß das hässliche Maul eines Grenadierfisches an meinen Helm. Ich versetzte dem Fisch einen Schlag, sodass er zur Seite wich, und schwamm weiter. Meine Stirnlampe warf ihr Licht auf Metallschränke und einen Untersuchungstisch. Ich sah mich nach allen Seiten um und erkannte, dass ich mich in einer Krankenstation befand.
Entsetzt machte ich einen Satz zurück. Mir brach der kalte Schweiß aus. Ich war unvorbereitet eingetreten, hatte mich nicht auf das gefasst gemacht, was ich nun sah. Sofort kamen wieder Angst und Hilflosigkeit in mir hoch, wie immer wenn ich an meine Zeit im Krankenhaus erinnert wurde. Gerade als mich die Panik übermannen wollte, lief ein dumpfes Zittern durch
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